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„Wer jetzt nicht beginnt, wird abgehängt“

Experten im Gespräch über die Entwicklung der Branche und ECLASS.

Neues von ECLASS: Aktuell ist die neue Version 14 des Datenstandards verfügbar. Grund genug, die Entwicklung von ECLASS und die Verbreitung in der Branche in den Blick zu nehmen. Wo liegen die Vorteile, sind diese bereits im Markt angekommen und ist Wettbewerbsfähigkeit ohne standardisierte Daten noch möglich? Antworten darauf liefert ein exklusiver Experten-Talk mit Josef Schmelter, Master Specialist Classification bei der Phoenix Contact GmbH & Co. KG, Peter Oel, Inhaber des Ingenieurbüro Peter Oel, und Stefan Mülhens, Geschäftsführer der AmpereSoft GmbH.

Frage: Herr Schmelter, Herr Oel, Herr Mülhens, Sie alle setzen sich schon seit vielen Jahren für die Verbreitung des Datenstandards ECLASS ein und treiben die Etablierung im Markt voran. Was sind aus Ihrer Sicht die Vorteile des Standards?
Josef Schmelter: Als wir das Thema Klassifizierung und zentrale Produktdatenbereitstellung vor über 20 Jahren angefangen haben, befürchteten viele Akteure am Markt, dass der Anwender Produkte unterschiedlicher Hersteller vergleicht und sich für dasjenige entscheidet, das etwas weniger kostet. Der Stand heute ist: Wer ECLASS nicht unterstützt, dessen Produkte stehen immer seltener zur Auswahl und werden weniger genutzt. Denn Hersteller sind mit ECLASS in der Lage, zu ihren Produkten einen Datensatz zu liefern, der so viele Informationen beinhaltet, dass die Anwender kaum noch manuelle Eingaben machen müssen. Dafür muss nur noch ein Standard unterstützt werden, da ECLASS von allen bedeutenden Tools am Markt eingelesen werden kann.

Peter Oel: Das stimmt. Der ECLASS-Standard ermöglicht es den Herstellern, ihrer Produktdokumentationspflicht standardisiert und sicher nachzukommen. Ohne einen Standard wie ECLASS ist die verlässliche Übertragung der Produktdaten in ein CAE-System, die für einen reibungslosen und modernen Engineering-Prozess dringend erforderlich ist, kaum möglich. Zu unterschiedlich sind die proprietären Formate der Tool-Systeme. Die erforderliche Korrektheit für eine verlässliche Dokumentation ist nur mit ECLASS möglich.

Stefan Mülhens:  Ich sehe es ähnlich. ECLASS hilft dabei, Verlässlichkeit zu schaffen. Jedes neue Produkt wird zum Beispiel von Planern und Anlagenbauern nur eingesetzt, wenn die Funktionalitäten schnell ersichtlich sind, ohne Kataloge zu wälzen. Zeit ist Geld! Für uns als Softwarehersteller ist die Optimal-Situation, dass wir uns zu 100 Prozent auf die Daten vom Hersteller verlassen können. ECLASS Advanced schreibt die Klassifikation und Dokumentation so detailreich vor, dass wir keine Ergänzungen durchführen müssen. Stattdessen können wir unsere Prozesse ablaufen lassen, der Endanwender ist glücklich damit und alles ist in Ordnung.

Frage: Bedeutet das, dass ohne ECLASS keine Wettbewerbsfähigkeit für Komponentenhersteller gegeben ist?
Schmelter: Wenn ich genug Mitarbeitende einsetze, die für alle Systeme die Daten pflegen, bin ich vielleicht noch wettbewerbsfähig, ohne ECLASS zu nutzen. Aber wer hat diese personellen Ressourcen? Und wer kann sich das leisten?

Mülhens: Wenn man genügend Manpower investieren würde, wäre es vielleicht möglich, alle Daten zu pflegen. Aber ich glaube nicht, dass die Qualität, Tiefe und allgemeingültige Verständlichkeit dieser Daten lieferbar wären. ECLASS bietet die Möglichkeit, alles in einem großen Detailreichtum zu beschreiben. Die eigenen Formate, die einige Hersteller nutzen, gestatten diese genaue Beschreibung nicht.

Schmelter: Es gibt noch einen weiteren Aspekt. Je früher Komponentenhersteller ECLASS nutzen, desto eher lernen sie, wo sie ihre Infrastruktur weiterentwickeln müssen. Unabhängig von der ECLASS-Version sind die Technik und die Wege zur Befüllung des Standards identisch. Daher sollten die Hersteller sich darum bemühen, bei jeder Version die neuen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Wer jetzt nicht beginnt, wird abgehängt.

Frage: Wie wichtig ist die angesprochene Detailpflicht für die Nachweispflichten, denen Planer heute nachkommen müssen?
Oel: Seit 40 Jahren ist das Thema ein Dauerbrenner: Wie übersetze ich normative Vorgaben in eine Zeichnung und in entsprechend geforderter Nachweise? Es muss überprüft werden, ob beispielsweise die Spannungs- und Kurzschlussfestigkeiten in den Anlagen stimmen oder die Wärmeverluste beherrschbar sind. Insbesondere in der Gebäudeautomation passiert das auch heute noch oft rudimentär und manuell. Im Falle eines Schadens müssen die Ursache und der Versicherungsfall jedoch durch Juristen geklärt werden. Wer ohne digitale Unterstützung arbeitet, kann schlicht direkt nichts nachweisen. Und das, obwohl eine Nachweispflicht besteht.

Schmelter: Eine Dokumentation beim Hausbau bedeutet viel zusätzlichen Aufwand. Die Zeit dafür fehlt in den meisten Fällen, daher fällt es der Branche schwer kosteneffizient den Regeln und Normen gerecht zu werden. Zudem würde der zusätzliche Zeiteinsatz hohe Kosten verursachen. Mit der Nutzung des ECLASS-Standards, der eindeutige Daten liefert, würde der Aufwand deutlich reduziert, sodass es künftig möglich wäre, einwandfrei zu dokumentieren und dabei alle relevanten Regeln einzuhalten.

Frage: Sie sprechen nicht nur von der Industrie, sondern auch von der Gebäudeautomation. Würde hier nicht BIM ausreichen?
Oel: BIM ist ein branchenspezifischer Prozess zum Erstellen und Verwalten von Informationen für ein Bauobjekt. Aufgrund der landesspezifischen Baugesetze ist der Prozess auch aus der gesellschafts- und strukturpolitischen Perspektive zu betrachten. Die Strukturen in Deutschland haben jedoch aufgrund der Stände eine andere Grundlage als zum Beispiel in Amerika. Alle Gewerke müssen für ein gutes Ergebnis optimal ineinandergreifen und das bei gleichzeitiger Beachtung der vielen Regeln, die in Deutschland gelten. Assistenzsysteme werden daher immer wichtiger. Doch sie benötigen Daten, was eine Standardisierung erfordert. Wir haben in der Vergangenheit die Komponenten aus Sicht der Hersteller unter anderem auch für das Engineering standardisiert. Jetzt müssen wir auch die Datenfluss-Prozesse in den BIM-Prozessen in den Blick nehmen. Hier ist ECLASS der richtige Weg, weil der Standard ein branchenübergreifendes, integratives Beschreiben über alle Gewerke der Erstellung und des Betreibens hinweg ermöglicht. Die branchenübergreifende ECLASS-Klassifikation unterstützt ERP-Systeme zukünftig auch bei der Verwaltung der Werteflüsse durch Nutzung von umweltrelevanten Artikel-Daten (z. B. Kalkulation CO₂-Steuer).

Frage: Herr Schmelter, Sie haben seit 2015 die Leitung der ECLASS Cross Expert Group CAx inne. Wie ist die Arbeitsgruppe organisiert?
Schmelter: In der ECLASS Cross Expert Group CAx sind die Hersteller von Geräten der Elektroindustrie und die Engineering-Werkzeuge-Anbieter vertreten. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur zu definieren, welche Produktinformationen in ECLASS beschreibbar sein sollten, sondern auch zu beraten, wie einzelne Felder gefüllt werden müssen. So können Werte wie Höhe, Breite und Tiefe eines Gerätes je nach Ausrichtung unterschiedlich angegeben werden.  Also muss man definieren, wie die Merkmale anzuwenden sind, und das erarbeitet die Arbeitsgruppe. Dabei kümmern wir uns vor allem um die Engineering-relevanten Daten, also Themen, die klassenübergreifend anwendbar sind.

Frage: Welche Neuerungen konnten Sie schon umsetzen?
Mülhens: Ein Thema, das wir vor Kurzem umgesetzt haben, betrifft Schaltplansymbole, die nun in ECLASS beschrieben werden können. Für unsere Anwender ist das ein großer Vorteil. So liefern die Hersteller die Verweise auf IEC/ECLASS-Standardsymbole oder funktionsspezifische komplexe Symbole und der Anwender muss sie nicht mehr selbst erstellen oder pflegen.  Gleichzeitig brauchen auch wir sie nicht systemisch bedingt ergänzen, um sicherzustellen, dass bei der Planung in ProPlan ein Symbol im Schaltplan erscheint. Gerade bei komplexen Produkten mit vielen Funktionalitäten ist dies besonders wichtig.

Oel: Ebenfalls eine wichtige Neuerung, die wir erreichen konnten, ist die funktionale Beschreibung. Gerade in der Gebäudeautomation gibt es Beschreibungsstandards, die in der Norm der VDI 3813 festgehalten sind. In der Arbeitsgruppe haben wir für ECLASS begonnen, die funktionalen Beschreibungen zu implementieren. Dies ermöglicht, dass man mit Suchmaschinen die geeigneten Komponenten über das Internet sucht und die Passfähigkeit der Funktionalitäten auf Basis des Protokolls überprüfen kann. Durch ECLASS ist man in der Lage, die funktionalen Eigenschaften an den Komponenten abzulegen. Die Beherrschung der Vielfältigkeit der technischen Lösungen ist durch den Menschen allein nicht mehr möglich, sondern Maschinenselektieren kann unterstützend eingesetzt werden. Am Ende können Maschinen konfigurieren und dokumentieren.

Schmelter: In Version 13 betrifft eine der Neuerungen den Farbcode von Kabeln, den wir nun mit ECLASS abbilden können. So liefern die Hersteller Daten darüber, welche Farben die Aderleitungen eines Kabels haben. Die Farbcodes werden normgerecht beschrieben. Es wurde genau definiert, wie die Farbcodes benannt werden müssen. Auch wenn dieses Merkmal eher klein erscheint, so fehlte es doch und wir haben uns darum gekümmert, dass die entsprechenden Daten heute ausgetauscht und verwendet werden können.

Frage: Herr Mülhens, welche Möglichkeiten bietet eine weitere Verbreitung des Datenstandards für die Entwicklung Ihrer Software?
Mülhens: Die Möglichkeiten sind groß. Ein Beispiel, mit dem wir uns aktuell beschäftigen, ist der Einsatz von Maschinenlernen und KI: An welchen Stellen der Datenverarbeitung macht der Einsatz Sinn und wie können hiermit Pflegeprozesse wesentlich beschleunigt und deren Qualität verbessert werden? Es geht um automatisierte Zuweisungen, Werteermittlung und Prüfungen. So werden Tools wie MatClass künftig darauf hinweisen, wenn neue Artikel im Vergleich zu Bisherigen anders beschrieben und bewertet wurden. Die Maschine hat gelernt, dass bestimmte Felder mit bestimmten Werten gefüllt werden müssen, und kann sowohl Vorschläge machen als auch darauf hinweisen, dass es Abweichungen gibt, vielleicht sogar im Vergleich von Artikeln. Dieses Maschinenlernen funktioniert besser, je mehr Daten zur Verfügung stehen. Und dafür ist die Verbreitung von ECLASS mit seinen exakten und detailreichen Daten entscheidend.

Frage: Nun nehmen wir bereits die nahe Zukunft in den Blick. Welche Entwicklung wird die Branche aus Ihrer Sicht nehmen?
Oel: Aus meiner Sicht wird uns in Zukunft insbesondere das Thema CO₂-Fußabdruck und digitaler Produktpass treiben. Bis 2025 steht die Überarbeitung der Ökodesign-Verordnung auf EU-Ebene an. Künftig müssen Produkte so konstruiert sein, dass Wiederverwendbarkeit sowie Upcycling und Downcycling möglich sind. Hier wird es eine große Anzahl von Daten geben, die standardisiert zur Verfügung gestellt werden müssen, um ein Produkt entsprechend dem neuen Gesetz zu bewerten. Die technischen Materialeigenschaften vor dem Hintergrund der Kreislaufwirtschaft werden eine neue Dimension erhalten. Es ist nicht mehr nur der Preis entscheidend, sondern vor allem die Umweltrelevanz.

Mülhens: Ich denke ebenfalls, dass der Product Carbon Footprint und digitaler Produktpass wichtige Themen sind. In ECLASS haben wir bereits viele Voraussetzungen geschaffen, um die erforderlichen Daten zu beschreiben, doch nun brauchen wir auch die Unterstützung der Hersteller, die eine Infrastruktur aufbauen müssen, um die entsprechenden Informationen zu liefern. Hier gibt es an einigen Stellen noch Nachholbedarf, da es sich um eine recht umfangreiche Aufgabenstellung handelt. Umso wichtiger ist es, dass Hersteller jetzt starten und nicht mehr länger warten.

v.l.n.r. Peter Oel, Stefan Mülhens, Josef Schmelter, Bild: Sputnik GmbH

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