Die Technische Universität Braunschweig plant mit dem Projekt „Die Digitale Baustelle – Bauindustrie 4.0 als Schlüssel für eine digitale und nachhaltige Bauwirtschaft“ die Untersuchung digitaler Fertigungstechnologien und deren Einfluss auf Planungs- und Produktionsprozesse unter realen Baustellenbedingungen. Ziel ist es, Erkenntnisse zu gewinnen und innovative Impulse für die Baupraxis zu generieren.
Wohnungen, Straßen, Brücken – ständig wird gebaut. Doch oft geschieht dies mit herkömmlichen Bautechniken, die seit Jahrzehnten unverändert sind. Während andere Industriezweige die Digitalisierung und Automatisierung zunehmend in ihre Fertigungsprozesse integrieren, bleibt der Bausektor von kostenintensiven, ineffizienten und umweltschädlichen Baustellenprozessen betroffen. Digitale Lösungen sind auf Baustellen selten anzutreffen und beschränken sich bisher auf spezifische Anwendungsbereiche und Pilotprojekte. Angesichts des steigenden Baubedarfs steht die Bauwirtschaft vor der großen Aufgabe, diesen Bedarf künftig mit weniger Ressourcen und Emissionen zu decken.
Innovative Vernetzung von digitalen Technologien
An der Beethovenstraße am Campus Ost der Technischen Universität Braunschweig entsteht das Projekt "Die Digitale Baustelle – Bauindustrie 4.0 als Schlüssel für eine digitale und nachhaltige Bauwirtschaft". Dabei wird eine einzigartige Forschungsinfrastruktur geschaffen, die aus verschiedenen digital gesteuerten Großgeräten besteht. Diese umfassen robotische Einheiten, mobile Roboter, eine automatisierte Betonmischanlage, Objekttracking und immersive Systeme wie eine LED-Wand mit Virtual-Reality-Technologie. Das Herzstück dieser Anlage ist die etwa sechs Meter hohe "3D-Druckeinheit", mit der großformatige, individualisierte, ressourcen- und CO2-effiziente Bauteile additiv hergestellt werden sollen – also in mehreren aufeinanderliegenden Schichten.
„Additive Fertigungstechnologien und insbesondere der 3D-Betondruck sind Schlüsseltechnologien für den Wandel der Bauwirtschaft, denn sie vereinen Ökonomie, Ökologie und soziale Aspekte der Bauproduktion“, betont Professor Patrick Schwerdtner vom Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb (IBB), einer der Initiatoren der digitalen Baustelle und Projektleiter für die Phase der Planung und Beschaffung.
Durch den Verzicht auf Schalung entfällt nicht nur ein kostenintensiver Schritt, sondern auch der additive Fertigungsprozess ermöglicht die Einsparung von Material. Der Beton wird nur dort aufgetragen, wo er konstruktiv benötigt wird. Zudem verbessert sich die Arbeitssicherheit, da die Bauteile automatisiert und nicht mehr manuell unter schwierigen örtlichen Bedingungen und bei problematischen Wetterverhältnissen hergestellt werden.
Die TU Braunschweig arbeitet gemeinsam mit der TU München im Sonderforschungsbereich TRR 277 "Additive Manufacturing in Construction" (AMC) an der Erforschung von 3D-Betondruck und anderen additiven Fertigungstechnologien. Professor Harald Kloft, Sprecher des Sonderforschungsbereichs, sieht in der Digitalen Baustelle großes Potenzial, um die Erkenntnisse aus den Grundlagenforschungen praktisch anzuwenden. Die Wissenschaftler möchten die Ergebnisse des AMC im 1:1-Maßstab und unter realen Bedingungen testen, indem sie verschiedene digitale Technologien vor Ort integrieren und gemäß der Industrie 4.0 vernetzen. Dies ermöglicht eine kontinuierliche datenbasierte Arbeitsweise auf der Baustelle von der Planung über die Herstellung bis zur Montage, erklärt Norman Hack, Professor für Digitale Konstruktion am Institut für Tragwerksentwurf (ITE). Durch die digitale Prozesskette steigt der Automatisierungsgrad, was ressourceneffizientes Bauen ermöglicht, Transportwege verkürzt und Kommunikationsfehler durch datenbasierten Informationsaustausch vermieden werden.
Schnittstelle für alle am Produktionsprozess Beteiligten ist das „Digital Engineering Center“: In dieser Schaltzentrale sollen sämtliche Informationen der „Digitalen Baustelle“ gebündelt werden – gespeichert und verwaltet in einem dreidimensionalen „BIM-Modell“ (auch für „konventionelle“ Bauprozesse abseits der additiven Fertigung). Die Methodik des Building Information Modelling (BIM) wollen die Wissenschaftler*innen auch als visuelles Kollaborationstool nutzen.
„Hier können wir dreidimensionale Darstellungen unter anderem mit Terminplänen koppeln, um uns Abläufe im zeitlichen Raffer anzuschauen, Daten zu sammeln und zu analysieren“, erklärt Professor Schwerdtner. Das „Digital Engineering Center“ soll zudem als Virtual Reality Labor fungieren, in dem zum Beispiel digitale Bauteile in den realen Raum projiziert werden können.
Die Mobile Digital Concrete Plant für den 3D-Druck vereint verschiedene Prozesse, die bisher separat abliefen, in einem digital durchgängigen Ablauf. Hierbei werden die Materialherstellung durch das Mischen der Ausgangsstoffe, die Förderung des Betons durch Pumpen sowie die Bestimmung der Eigenschaften des Frischbetons und die Fließfähigkeit kontrolliert gesteuert, um die gedruckte Struktur und den Verbund der Schichten zu gewährleisten, so Dirk Lowke, Professor für Baustoffe.
Neue Wege der Qualitätskontrolle
Für die Qualitätssicherung setzen die Forscher um Professor Markus Gerke vom Institut für Geodäsie und Photogrammetrie (IGP) auf automatische 3D-Vermessungssensorik und -methodik. Damit können sie die Ist- und Soll-Geometrie überprüfen und Schäden erkennen. Zusätzlich ist der Einsatz von speziellen Trackingsystemen geplant, um das gesamte Bauwerk für den Abgleich mit den Planungsdaten aufzunehmen. Gleichzeitig möchten die Wissenschaftler die Wetterbedingungen, einschließlich des Windes, messen, um die Auswirkungen der realen Baustellenbedingungen zu analysieren.
In der Zukunft könnte eine ähnliche Baustelle wie an der TU Braunschweig Wirklichkeit werden. „Wir wollen mit unserem Projekt Möglichkeiten für eine zukünftige Baustelleninfrastruktur aufzeigen“, sagt Professor Schwerdtner. „In Anbetracht der Vielseitigkeit von Bauprojekten und Bauverfahren wird es sicherlich eine Vielzahl von möglichen Konzepten geben. Mit unseren Forschungen wollen wir wesentliche Impulse setzen, auf die man aufbauen kann.“
Projektbegleitend und in folgenden Forschungsprojekten ist die Einbindung der regionalen und überregionalen Wirtschaft geplant. Das sieht Professor Schwerdtner auch als klares Angebot: „Auf der ‚Digitalen Baustelle‘ verknüpfen wir Grundlagenforschung und anwendungsnahe Forschung miteinander. Die Planungsbüros und Bauunternehmen sollen frühzeitig Kenntnis erlangen von möglichen Zukunftstechnologien und diese Überlegungen auch in ihre Unternehmensstrategie integrieren, da der Transformationsprozess eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt.“
Das Projekt „Die Digitale Baustelle – Bauindustrie 4.0 als Schlüssel für eine digitale und nachhaltige Bauwirtschaft“ wurde durch fünf Professoren der TU Braunschweig initiiert. Neben dem Institut für Bauwirtschaft und Baubetrieb (Professor Patrick Schwerdtner) sind das Institut für Tragwerksentwurf (Professor Harald Kloft, Professor Norman Hack), das Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz (Professor Dirk Lowke) und das Institut für Geodäsie und Photogrammetrie (Professor Markus Gerke) an dem Projekt beteiligt. Die Forschungsinfrastruktur wird mit rund 3,8 Millionen Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert, einschließlich eines Eigenanteils von zehn Prozent. Das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) setzt die Aufbauförderung im Rahmen der Richtlinie „Innovation durch Hochschulen und Forschungseinrichtungen“ um.