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20.03.2023 | Interview: Ralf-Stefan Golinski

Digitalisierung ist ein Marathon, kein Sprint

Er ist CEO der Nemetschek Group, dem weltweit führenden Unternehmen intelligenter Softwarelösungen für den kompletten Lebenszyklus von Bau- und Infrastrukturprojekten. Yves Padrines ist überzeugt: Der digitale Zwilling wird eine immer größere Rolle einnehmen, bei Neubau, in der Planung und insbesondere auch für Bestandsgebäude. Und OPEN BIM sei dabei unabdingbar.

Im europäischen Vergleich fällt auf, dass Deutschland bei der Digitalisierung noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie wir uns das wünschen würden. In der Baubranche ist das vor allem der konservativen Mentalität und den heterogenen Strukturen geschuldet. Sie nimmt daher Innovationen nicht so schnell an wie beispielsweise die Telekommunikationsbranche, aus der ich ursprünglich komme.

Die digitale Transformation ist eine Mammutaufgabe für die deutsche Bauwirtschaft. Als CEO der Nemetschek Group beobachten Sie auch die Entwicklungen in anderen Ländern. Wie weit ist Deutschland Ihres Erachtens im internationalen Vergleich?

Im europäischen Vergleich fällt auf, dass Deutschland bei der Digitalisierung noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie wir uns das wünschen würden. In der Baubranche ist das vor ­allem der konservativen Mentalität und den ­heterogenen Strukturen geschuldet. Sie nimmt daher Innovationen nicht so schnell an wie beispielsweise die Telekommunikationsbranche, aus der ich ursprünglich komme.

Es ist allerdings zu kurz gegriffen, nur mit dem Finger auf die Industrie zu zeigen. Auch und insbesondere die Politik ist gefragt, die Digitalisierung voranzutreiben. In den USA, in Großbritannien und Norwegen ist BIM zum Beispiel für alle staatlichen Projekte vorgeschrieben. Auch in Deutschland ist BIM obligatorisch – zumindest bei Infrastrukturprojekten, die vollständig von der öffentlichen Hand finanziert werden. Das ist ein wichtiger Ansporn für die Digitalisierung. Aber Deutschland hat da auf jeden Fall noch Nachholbedarf. Mit unseren Softwarelösungen wollen wir die digitale Transformation des Bauwesens konkret und praxisnah vorantreiben.

Die Bau- und Immobilienwirtschaft trägt eine sehr große Verantwortung für den Klimaschutz.Welche sind aus Ihrer Sicht dafür die wirkungsvollsten Hebel?

Um die Hebel ansetzen zu können, müssen wir zunächst verstehen, welche Probleme die Nachhaltigkeit ausbremsen. Das größte Problem sehe ich darin, dass 90 Prozent aller Bauprojekte die geplante Bauzeit oder das geplante Budget überschreiten – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Das zweite Problem ist, dass Gebäude knapp 40 Prozent der gesamten CO-Emissionen weltweit verursachen – der größte Teil davon in der Betriebs- und Verwaltungsphase.

Drittens werden mehr als 20 Prozent der in einem Bauprojekt verwendeten Materialien verschwendet, weil Management und Planung nicht optimal funktionieren. Und schließlich ist der chronische Mangel an Arbeitskräften in der Bauindustrie ein Problem.

Und Digitalisierung kann all diese Probleme auf einen Schlag lösen ?

Digitale Lösungen können nicht alle diese Probleme vollständig lösen, aber sie können einen sehr guten Beitrag leisten, ihre Auswirkungen zu reduzieren. Ein Beispiel: In der Entwurfsphase eines Gebäudes lässt sich mit der entsprechenden Software sehr gut steuern, wie viel Material verwendet wird. So wird weniger Material verschwendet. Auch der Energiebedarf des fertigen Gebäudes kann durch die Nutzung digitaler Tools bereits in der Entwurfs- und Planungsphase optimiert werden. Das hilft, die CO-Emissionen zu verringern.

Auch Termin- und Budgetüberschreitungen können mit Software verhindert werden. Wenn alle Parteien, die an einem Bauprojekt beteiligt sind, digital zusammenarbeiten, können sie Bauprojekte pünktlich abschließen und die Kosten einhalten. Zudem sparen digitale Tools viel Zeit und manuelle Arbeit. Davon profitieren vor allem Architektur- und Planungsbüros, in denen aktuell der Fachkräftemangel grassiert.

 

 

Aber digitale Lösungen kommen wahrscheinlich eher für große Bauprojekte in Frage?

Es hält sich der hartnäckige Mythos, dass BIM, und insbesondere OPEN BIM, sich nur bei größeren Projekten lohnen. Gerade kleinen Unternehmen mit kleinen Teams und schmalen Budgets kommt die Zeitersparnis aus OPEN BIM zugute. Wenn sie weniger Zeit darauf verwenden, Informationen händisch zu übertragen oder zu suchen, können sie die Zeit für Wertschöpfung nutzen.

Die Einstiegshürden sind in der Realität leicht zu nehmen: Die meisten Tools laufen auf handelsüblichen Computern oder gar Smartphones und Tablets. Es ist alles da, es fehlt nur bei vielen der unbedingte Wille, es umzusetzen. Und das kann man durch Aufklärung ändern. Regularien helfen auch, aber um die flächendeckende Einführung von BIM als Standard zu erreichen, muss auch der Wille in den Unternehmen und bei den Mitarbeitern da sein.

Betrachtet man den Anbietermarkt, herrscht kein Mangel an digitalen Tools, neuen Methoden und passender IT zur Unterstützung der Anwender beim digitalen und nachhaltigen Planen, Bauen, Betreiben und auch Rückbau. Oder sehen Sie noch maßgebliche technologische Lücken?

Technologische Lücken gibt es nur noch sehr wenige, denn das meiste ist ja bereits seit Jahren und Jahrzehnten vorhanden. Unser Firmengründer Prof. Nemetschek hat bereits vor 60 Jahren, als er unser Unternehmen gegründet hat, den Einsatz digitaler Tools forciert. Es gilt vielmehr, die Lücken zwischen den Technologien zu schließen. Hier fehlt es allerdings an Akzeptanz in der Branche.

Wenn wir beispielsweise wie oben bereits über OPEN BIM sprechen, zeigt sich auch oft eine Art Ablehnung von zu viel Transparenz. Während einzelne Lösungen in vielen Fällen gerne genutzt werden, fürchtet man, dass das transparente Teilen von Daten und Informationen mit anderen Projektbeteiligten zu Nachteilen führt. Diese Angst ist völlig unbegründet; die Vorteile einer interdisziplinären Zusammenarbeit überwiegen bei weitem die vermeintlichen Risiken.

Vielmehr schneiden sich Unternehmen ins eigene Fleisch, wenn sie auf Insellösungen setzen. Denn nur wenige Unternehmen entwerfen ein Projekt völlig isoliert; Datensilos bremsen alle Beteiligten aus. Ein ganzheitlicher Ansatz sowie gemeinsam genutzte Daten machen Bauprojekte deutlich effizienter und sparen Zeit und Kosten.

Was macht OPEN BIM so besonders?

Bei OPEN BIM geht es um die gemeinsame Nutzung von Informationen während des gesamten Gebäudelebenszyklus in einem Format, das jeder mit den gewünschten Werkzeugen verwenden kann, ohne dass wichtige Daten verloren gehen. Im Grunde ist es die effektivste Art, Ideen, Pläne und Daten zu kommunizieren und mit anderen auf einer einheitlichen Datenbasis zusammenzuarbeiten.

Dafür werden offene Schnittstellen, einheitliche Datenformate, wie zum Beispiel IFC, aber auch entsprechende staatlich Regularien benötigt. Um Datensilos bei der Verwendung von Nemetschek Software zu vermeiden, setzen wir schon heute vollständig auf OPEN BIM und Interoperabilität.

In Kombination mit Technologien wie dem digitalen Zwilling und einem ganzheitlichen, zentralen Datenmanagement können wir bereits heute die Lücken schließen, die insbesondere an den Schnittstellen zwischen Planung, Bau und Gebäudeverwaltung entstehen. Es sind alle Technologien da, nun muss man sie zusammenbringen und gemeinsam nutzbar machen.

Welche Herausforderungen sehen Sie denn noch auf Seiten der Unternehmen beziehungsweise der Anwender, sich auch technologisch besser für die Zukunft und den Wettbewerb aufzustellen?

Obwohl beispielsweise BIM bereits seit fast 20 Jahren verfügbar ist, hat es sich leider noch nicht als Standard in der Industrie durchgesetzt. Das wäre allerdings ein wichtiger erster Schritt, um die Digitalisierung in der Baubranche voranzutreiben. Dabei gibt es viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Für uns und insbesondere für mich selbst ist Digitalisierung auch eine Frage der Philosophie, man muss sich damit beschäftigen und es in das Daily Business und die Unternehmens-DNA integrieren.

Das Ziel kann nicht sein, dass Unternehmen digitalisieren, nur um zu sagen, ich mache die Digitalisierung mit, weil meine Konkurrenz das macht oder weil ein Kunde eine Software fordert. Man muss sich als Unternehmen klar machen: Was ist für mich drin? Warum will ich das tun? Soll es einige der genannten Herausforderungen lösen? Will ich Kosten reduzieren? Liegt mir Nachhaltigkeit besonders am Herzen? Liegt es daran, dass ich mehr Qualität bieten möchte? Die Antworten auf diese Fragen sind zentral, um die Akzeptanz für digitale Lösungen in den Chefetagen zu steigern. Aber da hört es ja nicht auf.

Und was ist mit der Mitarbeiterschaft?

Auch die Mitarbeiter müssen ins Boot geholt werden, schließlich müssen diese die Tools in der täglichen Arbeit nutzen. Es ist wichtig, die Digitalisierungsbemühungen intern gut zu kommunizieren. Die Mitarbeiter müssen geschult werden und die Anwendung beherrschen.

Darüber hinaus muss klargestellt werden, dass eine Software keine Mitarbeiter ersetzen kann und soll. Im Gegenteil: Durch effizientere Prozesse werden Arbeitsplätze langfristig gesichert, da Unternehmen ihre Mitarbeiter effizienter einsetzen können und so teilweise mehr Projekte durchführen können, ohne dass die Mitarbeiter über die Maßen strapaziert werden.

Auch die korrekte Implementierung der Tools ist wichtig. Oft gibt es falsche Implementierungen oder es werden Softwarelösungen eingesetzt, die nicht miteinander kompatibel sind. Dadurch entstehen Silos und es wird unnötig Zeit und Geld verschlungen. Auch deshalb treten wir dafür ein, offene Lösungen voranzutreiben. Immer in dem Wissen: Digitalisierung ist ein Marathon, kein Sprint. Aber die Vorteile der Digitalisierung sind diesen Aufwand zweifellos wert.

Die Nemetschek Group war 2022 Hauptsponsor der BIM-Tage Deutschland. Dabei fanden auch Gespräche und Diskussionen mit Repräsentanten von Bundesregierung und Politik statt. Welche Anregungen oder sogar Forderungen würden Sie heute zu den politischen Rahmenbedingungen für ein digitales und nachhaltiges Bauwesen in Deutschland formulieren?

Ich bin davon überzeugt, dass Digitalisierung und Nachhaltigkeit untrennbar zusammenhängen. Wie bereits ausgeführt, hat die Baubranche in beiden Bereichen viel ungenutztes Potenzial. Digitale Tools und deren barrierefrei möglicher Einsatz stellen die einzige Möglichkeit dar, Effizienz und Nachhaltigkeit signifikant zu steigern. Die Branche ist deshalb gefordert, den Einsatz offener Schnittstellen weiter voranzutreiben und die digitale Zusammenarbeit zwischen allen Gewerken zu fördern.

Die Politik muss parallel dazu den dafür erforderlichen Rahmen aktiv gestalten. Dabei ist es entscheidend, in die Aus- und Weiterbildung der benötigten Fachkräfte zu investieren. Zudem betrifft der Mobilfunkausbau und 5G auch die Bauindustrie – damit der Datenaustausch auf der Baustelle nicht an Funklöchern scheitert. Nicht zuletzt liegt es an der Politik, den komplett digitalen Bauantrag weiter zu forcieren.

Der Datenzugriff im digitalen Bauwesen erfolgt weitgehend cloudbasiert. Manch einer hat dabei kein gutes Gefühl: Was, wenn sich auch in der Bauwirtschaft ein Cloud-Monopol der USA entwickelt wie im Handel oder bei Social Media? Können deutsche oder europäische IT-Anbieter dauerhaft dagegenhalten?

Da sehe ich keine große Gefahr. Der Online-Handel und Social Media haben ihren Ursprung ohnehin in den USA. Klar, dass da dann auch die Führungsrolle verankert ist. Wir als Nemetschek Group mit Sitz in München unterliegen als deutsches Unternehmen den deutschen und europäischen Regularien rund um Datensicherheit und Datenschutz. Und das ist auch wichtig, da die Cloud auf Dauer für bestimmte Segmente unumgänglich ist. Deshalb gibt es bei unseren kollaborativen Lösungen, bei denen mehrere Projektbeteiligte Zugriff auf die Daten haben, auch Sicherheitsvorkehrungen. Diese gewährleisten, dass wirklich nur diejenigen Zugriff haben, die auch berechtigt dazu sind.

Das ist auch ein ganz wichtiger Aspekt bei OPEN BIM: Es muss sicher sein. Mithilfe einheitlicher Sicherheitsstandards kann OPEN BIM über Herstellergrenzen hinweg sicher und reibungslos funktionieren.

Die Nemetschek Group unterstützt heute schon das gesamte digitale und durchgängige Datenmanagement im Immobilien Lebenszyklus. Wie sieht denn die Strategie für die kommenden fünf Jahre aus?

Wir sind der festen Überzeugung, dass die Digitalisierung beschleunigt werden muss – alleine schon aufgrund der Aufgaben der Baubranche beim Klimaschutz und der Nachhaltigkeit. Daher sehen wir hier langfristig enorme Wachstumschancen, weil der Digitalisierungsgrad in der Bauindustrie teilweise noch niedrig ist und andererseits der Bedarf groß, die Digitalisierung zu beschleunigen.

Dafür haben wir auch bei uns im Haus Maßnahmen ergriffen. César Flores Rodríguez ist als Chief Division Officer für Operate & Manage federführend in der neuen Geschäftseinheit für digitale Zwillinge daran beteiligt, diese Technologie nicht nur beim Gebäudemanagement, sondern auch in unseren anderen Geschäftsbereichen voranzutreiben.

Der digitale Zwilling wird in den kommenden Jahren eine immer größere Rolle einnehmen. Nicht nur bei Neubau und in der Planung, sondern insbesondere auch bei der Optimierung von Bestandsgebäuden. Dafür ist OPEN BIM und ein damit verbundener, ungestörter Datenfluss unabdingbar.

Diese Erkenntnis in der Baubranche, in der Politik aber auch unter den Softwareherstellern zu festigen und damit die dafür notwendigen Schritte zu unternehmen, ist in den kommenden Jahren eine ganz wichtige Mission für mich persönlich aber auch für Nemetschek. Zudem investieren wir stark in neue Technologien und unterstützten vielversprechende Startups, zuletzt unter anderem das Münchner Robotik-Startup Kewazo. Die Kreativität und Lösungsorientierung dieser jungen Unternehmer sind entscheidend für die Weiterentwicklung der Branche.

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© GSMH
Autor

Yves Padrines ist seit dem 1. März 2022 Vorstandsvorsitzender (CEO) der Nemetschek Group. Neben der Leitung der gesamten Gruppe ist er für den wachstumsstarken Geschäftsbereich Media & Entertainment (M&E) sowie Nemetschek Venture Investments verantwortlich und steuert die Fusions- und Akquisitionsaktivitäten. Bevor er zum CEO der Nemetschek Group ernannt wurde, war Yves Padrines Chief Executive Officer von Synamedia, wo er erfolgreich den weltweit größten unabhängigen Anbieter von Videosoftware für Pay-TV, Telekommunikation, Medien und OTT-Anbieter formte und transformierte. Davor war Padrines bei Cisco als Vice President of Global Service Provider EMEA für das gesamte Angebot von Cisco-Produkten und Dienstleistungen verantwortlich. Er kam im Rahmen des Verkaufs von NDS zu Cisco, wo er in einer Reihe von leitenden Managementpositionen tätig war. Zu Beginn seiner Laufbahn war er bei PriceWaterhouseCoopers, Vivendi und bei der Gründung einer Musik-Online-Plattform in den USA tätig, die von Creative Labs unterstützt wurde.
nemetschek.com/de

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