Alfred Waschl
1992 wurde die Stuttgarter Sportwagenschmiede Porsche permanent mit negativen Berichten überschüttet. Nicht nur der mehrmalige Managerwechsel oder die Produktpolitik (Porsche924 und Porsche 928), auch die Entwicklungs- und Fertigungsprozesse sowie die Vermarktung erzeugten bei den Verantwortlichen Veränderungsdruck.
Porsche war nicht der einzige deutsche Automobilkonzern, der sich mit Schlagwörtern auseinandersetzen musste, die maßgeblich von der japanischen Automobilindustrie geprägt wurden:
• Lean production
• Just in time
• Cero defect
• Lean distribution
• Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP)
• Time to market
• Skalierungseffekte
Die gesamte deutsche Automobilindustrie stand unter Druck. Die Digitalisierung war, vor allem in der Produktion, in der Automobilindustrie schon 1992 ein heiß diskutiertes Thema, das nicht nur von Forschern vorangetrieben wurde. Eine Dauer von fünf bis zu sieben Jahren, bis eine Produktentwicklung am Markt lanciert wurde, war wirtschaftlich betrachtet zu viel.
Die Japaner, vor allem die Volumenmarken, brauchten damals drei bis vier Jahre. Das ist die halbe Zeit, in denen Kosten entstehen, denen kein Umsatz gegenübersteht. Und sie garantierten drei Jahre lang die volle Funktionstüchtigkeit des Fahrzeugs, während deutsche Modelle nur mit einer einjährigen Garantie ausgestattet waren.
Bis zum Jahr 2012, dem Jahr des größten Umsatzeinbruches des europäischen Automobilmarktes, hatte die deutsche Automobilindustrie die oben genannten Wissensbereiche komplett optimiert und in der gesamten Wertschöpfungskette den japanischen Vorsprung eliminiert. In diesem Zeitraum wurde bei praktisch allen europäischen Herstellern der digitale Zwilling zum Standardwerkzeug der Branche.
Damit ist die Verbindung von der Autobranche zur Immobilienbranche geschlagen, in der der digitale Zwilling zurzeit auf dem Weg ist, zum Bindeglied zwischen allen Stakeholdern zu werden – Auftraggeber, Architekt, Planungsbüros, Sachverständige, Errichtergewerke, Betreiber, Hausverwalter, Nutzer. Pessimisten könnten dies so interpretieren, dass die Immobilienwirtschaft in ihrer digitalen Transformation 10 bis 15 Jahre hinter der Automobilindustrie zurückliegt. Diese Argumentation ist durchaus belastbar, aber sie wirkt eher kraftlos. Größere Substanz besitzt die Argumentation, dass die Automobilbranche gezeigt hat, dass man einen Rückstand nicht nur aufholen kann, sondern in einen Vorsprung verwandeln kann.
Diesen Kraftakt traue ich der gesamten Immobilienbranche zu, zumal ein Argument nicht mehr sticht: dass jedes Gebäude ein Prototyp (Unikat) sei, wohingegen Autos millionenfach produziert würden. Bei praktisch jedem Pkw-Modell gibt es jedoch dutzende Ausstattungsvarianten, die dazu führen, dass tausende verschiedene Autoseiner Serie im selben Prozessablauf entstehen.
Der digitale Zwilling in der Automobilindustrie ist die virtuelle Kopie des realen Modells. Damit übernimmt er die Funktion des Prototyps und des Testobjekts für Produktion und Betrieb. Besonders deutlich wird das in der Formel 1, wo in jedem WM-Jahr bis zum Februar ein Testverbot gilt, im März aber schon die Rennsaison startet.
Bis zum ersten realen Test hat keiner der Boliden die virtuelle Welt verlassen und wurde real auf Standhaftigkeit, Verbrauch, Luftwiderstand, Materialermüdung usw. getestet. Die wirklichen Testfahrten zeugen dann von der Qualität des digitalen Zwillings.
Auf die Immobilienbranche umgesetzt würde das heißen, dass nach dem ersten Entwurf der Designskizzen (Freihandskizzen) sofort in einem BIM-Modell das Makro-Machbarkeitsmodell entsteht und jede weitere Entwicklung des Modells im BIM-Gesamtmodell erfolgt. Die Open-BIM-Variante ermöglicht es allen Stakeholdern, in das jeweilige Modell Einsicht zu nehmen oder dokumentiert weiterzuentwickeln.
Die Folge eines solchen Prozesses in der Immobilienbranche, die mehrheitlich lokal agiert, ist nicht nur der Effekt der gesamtheitlichen Zeiteinsparung, sondern vielmehr die Reduktion von Stillstandszeiten und die Reduktion von Fehlerbeseitigungszeiten. Kurz gesagt: bessere Qualität des Modells bei kürzerer Entwicklungszeit.
Die Methodik BIM wird in den nächsten Jahren die Immobilienbranche massiv verändern. Diese Aussage ist nicht gewagt, weil viele Länder dieser Welt bei der Umsetzung der BIM-Methodik schon wesentlich weiter sind 15als die DACH-Region. Die Länder Deutschland, Österreich und Schweiz haben hier eine Herausforderung vor sich, die mit den Umwälzungen in der Automobilindustrie ab 1992 vergleichbar ist.
BIM ist die Sprache der Techniker des 21. Jahrhunderts. Wer darunter nur eine 3D-Darstellung versteht, greift zu kurz. Es geht um die gleichen Schlagwörter wie am Beginn des Artikels.
In Anlehnung an eine Studie von PricewaterhouseCoopers(PwC), die kürzlich für die Automobilbranche erstellt wurde, könnte man folgende Vormarschszenarien der digitalen Zwillinge für die nächsten fünf Jahre entwerfen:
• Predictive Maintenance: jährlicher Zuwachs mehr als 20 Prozent
• Big-Data-getriebene Prozesse und Qualitätsoptimierung: jährlicher Zuwachs mehr als 20 Prozent
• Prozessvisualisierung und -automation: jährlicher Zuwachs mehr als 20 Prozent
• Vernetzte Produktion: jährlicher Zuwachs mehr als 20 Prozent
• Integrierte Planung: jährlicher Zuwachs mehr als 20 Prozent
Weitere Wachstumsfelder für digitale Zwillinge sind Daten-befähigte Ressourcen-Optimierung, digitaler Zwilling von Produktionsassets oder digitale Logistik.
Die Automobilindustrie hat es auch geschafft, reale Daten in den virtuellen Zwilling zu installieren. Die realen Daten stammen von Sensoren (Telemetrie in der Formel 1). Diese Kopplung der realen und virtuellen Welt, die bei Gebäuden täglich wichtiger wird, ermöglicht die Analyse von Daten und die Überwachung von Systemen.
Es geht darum, Probleme eines Gebäudes zu verstehen und sie zu bearbeiten, bevor sie auftreten, Ausfallzeiten zu vermeiden und über die Computersimulation die reale Zukunft genauer zu planen.
Nicht jeder Marktteilnehmer wird den Prozess der Digitalisierung überstehen. Aktuell könnte man das Beispiel des Industriegiganten General Electric (GE) nennen, der nach 111 Jahren im Jahr 2018 aus dem weltweit wichtigsten Börsenindex Dow Jones schied. 1993 war dieses Unternehmen das wertvollste börsennotierte Unternehmen der USA. Im Juni 2018 reichte der Aktienkurs von GE nicht mehr für die Zugehörigkeit zum Dow Jones. Dieser Abschied ist ein Symbol für die aktuelle Zeitenwende, dem Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter.
Diese Entwicklung zeigt aber auch, dass nicht mehr rauchende Schlote, sondern Daten die Wirtschaft treiben. Und so sind neue Giganten entstanden: Apple, Amazon, Facebook, Google. Sie kommen aus den USA, aber China bringt mit Alibaba, Baidu oder Tencent neuen Wind in die Gigantensegel.
All diesen Firmen ist gemein, dass sie für ihr Wachstum wenig Kapital in Form von Sachanlagevermögen benötigen. Sie generieren allerdings umso mehr Vermögen in Form von immateriellen Werten wie
• Know-how der Mitarbeiter
• Datensammlung
• Analyse der Daten
• Verwertung der Daten
• Vernetzung der Daten
• Machine Learning
Hardware ist für die Entwicklung der neuen Giganten notwendig, aber nicht der wesentliche Wettbewerbsvorteil. Der ist durch die Software gegeben, die in jeder Branche von Menschen programmiert wird, egal ob Automobilindustrie oder Immobilienwirtschaft. Mit anderen Worten: Die Immobilienbranche braucht kluge Softwareentwickler, die die neuen Geschäftsmodelleeffektiv und schnell abbilden.
John Chambers, Chairman und CEO von Cisco, beschrieb diesen Prozessmit vier Worten: „Disrupt or be disrupted.“