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16.11.2021 | Jacqueline Peter, Valerij Eske, Ayham Kemand, Steven Rochholz, Alexander Malkwitz

Was virtuelle Rundgänge und digitale Lernszenarien gemeinsam haben

Virtuell Reality

Vieles spricht dafür, dass Virtuell Reality (VR) für die digitale Bestandserfassung künftig ein unverzichtbarer Leistungsbaustein sein wird. Doch auch für digitale Lern-Szenarien in Bildung und Praxis eröffnen sich neue Potenziale.

Eine virtuelle Erfahrung wird meist mit einer computerbasierten Umgebung aus der Gaming-Szene in Verbindung gebracht. Dabei ist der Einsatz der virtuellen Realität längst auch in anderen Branchen angekommen. In der Baubranche hält die Technologie ein hohes Maß an Anwendungspotenzial bereit, etwa für virtuelle Rundgänge.

Um die Thematik besser zu verstehen, muss die grundlegende Definition der virtuellen Realität (VR) genauer betrachtet werden. Allgemein ist die virtuelle Erfahrung eine Projektion, die visuell und mental erlebt werden kann, aber physisch ausbleibt. Bei virtuellen Rundgängen handelt es sich um eine computergestützte Umgebung, die den Nutzer in eine Welt eintauchen lässt, in der eine Interaktion mit zielgerichtetem Fokus und Umgebungsgeräuschen möglich ist. Hierbei ist entscheidend, wie hoch die Intensität der Immersion erreicht werden kann. Immersion ist ein Effekt der VR-Technik, der den Nutzer die virtuelle Umgebung als real empfinden lässt. Dabei wird das Bewusstsein für die reale Welt, je nach VR-Technik, immer stärker in den Hintergrund gedrängt und durch die stets real wirkende virtuelle Welt ersetzt.

Die drei gängigsten Varianten zur Erstellung virtueller Rundgänge

Die virtuellen Rundgänge können durch unterschiedliche Techniken erfahren werden, zum Beispiel mittels VR-Brillen, Smartphones, Tablets, Computerbildschirmen oder auch sogenannten „VR-Caves“, bei letzterem wird die Virtuelle Realität mittels Beamer an alle Wände eines Raums projiziert. Doch unabhängig von der eingesetzten Technik können drei Varianten differenziert werden:

  • Der klassisch-virtuelle Rundgang (360°-Panoramabild)
  • Ein virtueller Rundgang in einer künstlichen¬ Welt/in einem künstlichen Objekt, wie einem BIM-Modell
  • Virtuelle Rundgänge in einem Punktwolkenmodell

 Bei klassisch-virtuellen Rundgängen taucht der Nutzer in eine virtuelle Umgebung ein, um diese genauer wahrnehmen zu können. In der Praxis werden diese mit 360°-Panoramabildern etwa für Wohnungsbesichtigungen durch Immobilienmakler erstellt. Ein enormer Vorteil: Die Vielzahl von Interessenten können auch Details registrieren und beliebig oft und zeitunabhängig betrachten. In der Regel wird ein virtueller Rundgang durch die Umwandlung eines nahtlosen 360°-Panoramabildes in einen realistischen gleichwinkligen 3D-Raum dargestellt. So lässt sich die Sichtweise des Nutzers um 360° in alle Richtungen drehen.

Die zweite Variante eines virtuellen Rundgangs kann auch ohne die Aufnahme der Realität mittels Kamera oder Laserscan erzeugt werden. Es entsteht ein komplett künstliches Objekt.  Wie in einer Computerspielwelt kann eine Tour durch den Ersteller geführt werden, oder der Anwender bewegt sich eigenständig – was dann auch für ein BIM-Modell gelte.

Die dritte Variante schließlich, eine virtuelle Umgebung gezielt zu erschaffen, bietet die Abbildung der realen Welt. Dazu dienen Verfahren wie Photogrammetrie oder 3D-Laserscan, mit denen Punktwolken von dem gewünschten Gebäude, den Räumen oder dem Gelände erfasst werden. Im Wesentlichen unterscheiden sich beide Verfahren in der Genauigkeit. So erreicht die Anwendung der Photogrammetrie durch die Überlagerung von Bilddaten aus mehreren Perspektiven eine Abweichung von +/–1 bis 5 Zentimeter. Mit der Laserscan-Methode wird eine höhere Genauigkeit erzielt, da hier durch die Reflektion der einzelnen Laserscanpunkte eine höhere Punktdichte erreicht wird. Durch die Umwandlung der Punktwolken¬ mit genauen geodätischen Datenpunkten entsteht im Ergebnis ein skalierbares und messbares geometrisches System. Der so entstandene geometrische Körper findet in der Fachliteratur die Bezeichnung Digital Twin oder auch virtueller Zwilling. Und so gewinnt diese Methode bei dem ScanToBIM-Verfahren zunehmend an Bedeutung in der BIM-Welt.

Die beschriebenen virtuellen Rundgänge führen im Ergebnis zu vielfältigen Anwendungs¬fällen für Bau- und Immobilienwirtschaft:

  • Unternehmenspräsentationen
  • Präsentation von Planungsvarianten
  • AS-Build Ansichten
  • Mängelmanagement
  • Risikomanagement
  • Indoor-Rundgänge, wie Navigation zu Meetingräumen
  • Wohnungsbesichtigung (Immobilienmarkt)
  • Aufgaben, wie messen, kommentieren und kommunizieren
  • 3D-Dokumentation
  • Digitale Lernszenarien, wie hier mit einem¬ Beispiel

Hier werden virtuelle Rundgänge zur Grundlage für digitale Lernszenarien

An der Universität Duisburg-Essen setzen das Institut für Baubetrieb und Baumanagement sowie das Institut für Digitalisierung im Bauwesen gemeinsam virtuelle Rundgänge auf Baustellen ein, um die Lehre für zukünftige Bauingenieure zu verbessern. Die zielgerichtete Visualisierung soll das digitale Lernen fördern. Dabei entstehen diese virtuellen Rundgänge aus hochqualitativen 360°-Panoramabildern, die auf den Baustellen aufgenommen werden. Anschließend werden die einzelnen 360°-Panoramabilder verknüpft und mit situationsbezogenen Informationen und Wissensfragen aus der Lehre hinterlegt. So können Grundlagen über Materialien, Bauabläufe oder Versuchsaufbauten visuell und virtuell vermittelt werden. Die integrierten Lehrinhalte sind basierend auf einem Interview mit dem vor Ort zuständigen Bauleiter erarbeitet worden. Dadurch wird das Verständnis der Studierenden für die praxisrelevanten Problemstellungen in hohem Maße verbessert.

Um einen noch immersiveren Eindruck der Umgebung zu erhalten, ist auch der Einsatz von VR-Brillen möglich, wodurch der Nutzer virtuell in die örtlichen Gegebenheiten eintaucht und sich durch die Aufnahmen bewegen kann. Zusammenfassend soll der Einsatz der Virtual-Reality-Technik den Studierenden die Möglich-keit geben, Systeme und Verfahren besser zu verstehen und durch visuelle Verknüpfungen eine neue Art des Selbststudiums zu erfahren. Um den Studierenden aber auch eine große Vielfalt an verschiedensten Szenarien zur Verfügung zu stellen, werden die beiden Institute nun verschiedene Baustellen aus allen Bereichen der Bauindustrie (Hochbau, Tiefbau, Straßenbau usw.) besuchen. Auch ist im nächsten Schritt der Einsatz von Drohnen geplant, um verschiedene Perspektiven von Baustellenabläufen besser darzustellen. Diese können dann ebenfalls in die virtuellen Rundgänge integriert werden.

Virtuelle Rundgang durch ein Gebäude, Bild: Drees & Sommer

Das an der Universität Duisburg-Essen entwickelte Konzept bietet dem Hochschulsystem eine effizientere Gestaltung des Lehrplans. Es fördert auch die didaktische Wissensorganisation in verschiedenen Bereichen von Unternehmen. Dort kann der Einsatz von VR-Lernszenarien zu gezielterem Kompetenzaufbau und Wissenserhalt beitragen. Die Implementierung des Wissenstands in laufende Prozesse ermöglicht eine höhere Transparenz und bessere Lösungsfindung – nicht nur bei Störungen.

Digitale Abbildung des realitätsnahen Ist-Zustands von Bestandsobjekten schon seit 2017

Die heutige Nutzung von Gebäudedaten basiert¬ häufig noch immer auf einer Bestandsdokumen¬tation, die dem Planungsstand nach der Erstübergabe des Gebäudes entspricht. Die Aktualisierung dieser Datenlage baut dann nicht selten auf undokumentierten Kenntnissen des Betreiberpersonals und inhomogenen Anpassungen der Dokumentation auf, etwa infolge signifikanter Umbauarbeiten. Im Laufe einer Lebenszyklusperiode werden die Informationen¬ eines Gebäudes zunehmend intransparenter – mit erschwerenden Auswirkungen auf maßgebliche Prozesse:

  • Wachsende Lücken zwischen Bestandsdokumentation¬ und Ist-Zustand der Gebäudestruktur
  • Unsichere Ausschreibung und Einweisung¬ neuer Betreiber
  • Ineffizientes Betreiben von Gebäuden
  • Keine Visualisierung von Umbau¬arbeiten
  • Keine Zweit- oder Drittverwendung von Informationen
  • Inhomogene Datengrundlage bei Transaktionen
  • Missinterpretationen und Missverständnisse der Gebäude¬informationen

Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass unvernetzte bzw. veraltete Datensätze neue Betreiberstrategien und Geschäftsmodelle negieren. Eine Implementierung der digitalen Bestandserfassung wird zwangsläufig notwendig sein, um in Zukunft zeitgemäße und wettbewerbsfähige Transaktionsbegleitungen sowie Beratungsleistungen im Facility-Management von Immobilien besser durchführen zu können.

So sieht man das etwa auch bei Drees & Sommer: Zur Abbildung des realitätsnahen Ist-Zustands von Bestandsobjekten werden dort bereits seit 2017 die Methoden der digitalen Bestandsaufnahme („reality capturing“) angewendet. Anhand des 3D-Laserscannings wird ein Weg zur schnellen, einfachen und realitäts-nahen Visualisierung von Bestandsobjekten und deren technischer Gebäudeausstattung möglich. Die Umsetzung der Digitalisierung in der Bestandsimmobilie erfolgt mittels eines mobilen Laserscanner- und Kamerasystems, das die Umgebung digital erfasst und aufzeichnet. Je nach Ausbauzustand und Zugänglichkeit durch Möblierung und Raumaufteilung sind derzeit rund 5.000 bis 10.000 Quadratmeter Fläche pro Tag und Gerät möglich – mit Abweichungstoleranzen von +/–8 Millimeter (auf 10 Meter Länge).

Digitale Lernszenarien durch virtuelle Baustellenrundgänge, Bild: Drees & Sommer

Die so erzeugten digitalen Datensätze werden im Anschluss an den Scanvorgang nachbearbeitet, überlagert und in einem 3D-Modell zusammengefügt. Im Anschluss werden dem Indoor-Viewer mittels Einbettung von Point of Interests (POIs) georeferenzierte textliche Informationen zu der Bildebene hinzugefügt. Mit diesen ist dann neben der reinen Bildzusatzinformation, auch eine Positionsbestimmung und Suchfunktion ohne zusätzliche Infrastruktur möglich. Erst hierdurch wird das 3D-Modell auch „intelligent“ und damit vielseitiger einsetzbar (Navigation, Smartes FM). Dabei sind die POIs inhaltlich frei wählbar, z. B. für Raumnummern, Arbeitsplätze, Informationen zu technischen Anlagen wie Prüf- und Wartungsprotokolle etc., wodurch jeweiligen individuellen Anforderungen entsprochen werden kann.

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© Drees & Sommer
Punktwolke mit der Überlagerung von 3D-Planung
Autoren

Jacqueline Peter, M. Sc., ist für den Aufbau des neu gegründeten Instituts Digitalisierung im Bauwesen an der Universität Duisburg-Essen zuständig.Das Institut besteht aus einem von mehreren Fachbereichen der Abteilung Bauwissenschaften. Es vereint digitales Know-how in den Themenfeldern BIM, Data Science, Blockchain als auch Digitalisierung von Prozessen im Bauwesen. (Bild: privat)   uni-due.de/digibau/institut


Ayham Kemand, M. Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen für das Institut Baubetrieb und Baumanagement. Er beschäftigt sich im Rahmen seiner Dissertation mit dem Einfluss der Drohnentechnologie im Bauwesen, insbesondere mit den Themenfeldern Robotik, BIM und der künstlichen Intelligenz aus baubetrieblicher Sicht. (Bild: privat) uni-due.de/baubetrieb


M. Sc. Steven Rochholz ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Baubetrieb und Baumanagement (IBB) der Universität Duisburg-Essen.
Dort ist er verantwortlich für das E-Learning. Forschungsschwerpunkte sind der Einsatz von Sensorik auf der Baustelle und die Methode des BIM. (Bild: privat) uni-due.de/baubetrieb


M. Sc. Valerij Eske ist Consultant im Bereich Real Estate Consulting bei Drees & Sommer. Sein Aufgabenschwerpunkt liegt darin, im Rahmen Technischer Due-Diligence-Prüfungen mögliche Risiken und Deal-Breaker beim An- oder Verkauf einer Immobilie oder eines Portfolios zu identifizieren. valerij.eske@dreso.com

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