03.08.2021 |
Jens Niemann
Eine provokative Frage – mit einer ehrlichen Antwort.
Die Berufsaufgabe des Architekten ist laut allgemeingültiger Definition „die gestaltende, technische und wirtschaftliche Planung von Bauwerken“. Seine Kernkompetenz liegt dabei im „über das Bauen hinausgehende Schaffen von Architektur“. So steht es gemeinhin in den ersten Paragraphen der Architektengesetze, so habe ich es in meiner Ausbildung gelernt.
Doch jetzt kommt BIM.
Die Planung und Gestaltung von Bauwerken, für die viele meiner Kolleginnen und Kollegen als erstes immer noch zum Bleistift greifen, findet digital statt. Und die Möglichkeiten, die uns BIM in Konsequenz genutzt und angewendet bietet, zeigen, dass schon heute sowohl der technische als auch der wirtschaftliche Aspekt unseres Berufsbildes eigentlich von BIM erledigt werden kann. Selbst bei der Gestaltung kann uns BIM zumindest unterstützen. Allerdings müssten wir dazu das Potenzial von BIM viel besser und konsequenter ausschöpfen, als es bisher passiert.
Die Automatisierung kommt – auch für Architekten
Dass und wie die Automatisierung Prozesse und Abläufe beschleunigen kann, sehen und erleben wir bei Siemens täglich in unserem Bereich Digital Industries. In der industriellen Fertigung ist die Digitalisierung bereits mit voller Wucht angekommen. Abläufe und Produktionsmaschinen werden zusehends automatisiert und digital überwacht. Selbst in der Entwicklung werden digitale Zwillinge genutzt, mit denen Produkte zuerst virtuell designt und erprobt werden.
Und hier schließt sich der Kreis zum BIM. Auch bei BIM arbeiten wir mit digitalen Zwillingen, deren Potenzial wir jedoch – im Gegensatz zur Industrie – noch lange nicht wirklich heben.
Denn BIM stellt die Verknüpfung aller Parameter eines Gebäudes – Bauwerk und technische Ausrüstung – her und schafft somit die Grundlage für die weitgehende Automatisierung bei Steuerung und Betrieb.
BIM erledigt die technische und wirtschaftliche Planung
Theoretisch weiß man so im wahrsten Sinne des Wortes „auf Knopfdruck“ bereits bei der Planung, was der spätere Neubau in der Erstellung kosten wird. Man weiß auch, wie sich eventuelle Änderungen auf die Kostenplanung auswirken und gegebenenfalls optimieren lassen. Die zum Berufsbild des Architekten gehörende wirtschaftliche Planung kann also durch BIM weitgehend erledigt beziehungsweise stark beschleunigt werden.
Gleiches gilt für die technische Planung. Während heute noch primär die Vermeidung von gewerkeübergreifenden Leitungskollisionen als einer der Hauptvorteile von BIM hervorgehoben wird, kann ein wirklich intelligentes und übergreifendes System mehr. Wenn es – wie schon mehrfach gefordert – wirklich alle Gewerke und Planer vereint, wird es auch die notwendige Technik nach vorgegebenen Parametern komplett eigenständig in den Gebäudeplan einpflegen und die dazugehörige Statik automatisch überprüfen können. Damit wäre dann auch die zum Berufsbild des Architekten gehörende technische Planung von BIM erledigt.
Der nächste Schritt: Systemisches Bauen
Wie so etwas ansatzweise schon heute funktionieren kann, sehen wir bei SRE bei unserem Projekt The Move im neuen Stadtquartier Gateway Gardens in Frankfurt am Main. Dort errichten wir im gerade entstehenden Global Business Village direkt neben dem Frankfurter Flughafen ein Bürogebäude-Ensemble, das neben der Siemens-Niederlassung Frankfurt zu großen Teilen auch externen Mietern zur Verfügung stehen wird.
Gebaut wird das Ensemble von einem Partner, der unser architektonisch anspruchsvolles Konzept komplett in Systembauweise realisieren wird. Das heißt, alle Elemente, aus denen sich die Gebäude zusammensetzen, werden in Werken vorgefertigt und passgenau auf der Baustelle montiert – unabhängig von Wind und Wetter und mit hoher Kosten- und Terminsicherheit. BIM macht‘s möglich.
Und die Gestaltung?
Bleibt das, was viele Architekten schon immer als die eigentliche Quintessenz ihres Berufsbildes gesehen haben: das Gestalten von Architektur. Wenn wir nun BIM in Konsequenz weiterdenken, dann kann auch dieser Teil in gar nicht allzu ferner Zukunft eigentlich vom System übernommen werden. Der Architekt müsste dann nur noch die Eckdaten festlegen und seine Wünsche an die Architektur definieren. Den Rest erledigt der mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattete Computer, der auch den jeweils anfallenden Aufwand und die Kosten für die Realisation verschiedener Entwurfsvorschläge darstellen könnte. Das Planen und Entwerfen wird zum Programmieren.
Werden Architekten überflüssig?
Für viele Kolleginnen und Kollegen meines Berufsstandes mag das eine Horror-Vision sein. Doch zum einen wird sich auch dieser – wie jeder – Fortschritt nicht aufhalten lassen. Und zum anderen wird er uns Architekten ganz bestimmt nicht überflüssig machen. Unser Knowhow und unsere Kreativität werden auch in Zukunft die Basis dafür bilden, was ein Computer – selbst mit KI – berechnen und entwerfen kann. Denn Computer sind nur so klug wie die Vorgaben, die sie von uns Menschen erhalten.
Was sich jedoch grundlegend ändern muss, ist die Ausbildung der Architekten von morgen. Die Schwerpunkte müssen anders gesetzt werden, andere und teilweise auch neue Fähigkeiten werden gefragt sein. Um als Architekt auch mit dem BIM von morgen kreativ arbeiten zu können, brauchen wir IT-Architekten – und damit meine ich nicht die heute mit dieser Bezeichnung charakterisierten IT-Spezialisten, die beispielsweise die IT-Architektur eines Unternehmens aufsetzen. Nein, wir brauchen gelernte Architekten, die programmieren können, damit sie dem System sagen können, was und wie es gestalten soll, und die dazu notwendigen Rahmenbedingungen definieren. Architekten, die spielerisch mit den Möglichkeiten dieser Methode umgehen können.
Wir dürfen uns nicht rechts überholen lassen
All das mag vielleicht für viele von Ihnen noch wie Zukunftsmusik klingen. Doch gerade wir Architekten müssen aufpassen, dass wir von der Entwicklung nicht – wie man so schön sagt – rechts überholt werden. Wir müssen uns BIM gegenüber offen zeigen, und wir müssen uns zur Not selbst befähigen, den wahren Nutzen zu heben. Und das alles deutlich schneller, als wir es bisher vielleicht gewohnt sind.
Auch hierzu ein abschließendes Beispiel: Unser neues Siemens Headquarter in München haben wir als Einzelgebäude vor rund zehn Jahren noch herkömmlich geplant und gebaut. Heute – nur zehn Jahre später – planen wir die neue Siemensstadt in Berlin – einen kompletten Stadtteil – bereits vom ersten Tag an digital und mit BIM – inzwischen Standard für uns bei SRE.
Und in zehn Jahren? Dann werden viele der Visionen, die ich Ihnen geschildert habe, Realität sein. Die Smart Cities der Zukunft sind ohne Digitalisierung nicht realisierbar. Und Architekten, die sie gestalten wollen, müssen das auch können.

Ein modulares Systemelement auf dem Weg zu seinem Platz – über 23 Prozent CO₂-Ersparnis gegenüber konventioneller Bauweise, Bild: Siemens Real Estate