27.08.2020 |
Ilka May
Unter einem Digitalen Zwilling (Digital Twin) versteht man gemeinhin das virtuelle Abbild eines physischen Elements. Solche digitalen Geschwister treten in verschiedenen Erscheinungsformen und Einsatzbereichen auf, sie sind mit sehr unterschiedlichen Charakteristiken ausgestattet – und unterscheiden sich zusätzlich in stark variierenden Preisen. Daher lohnt es sich, genauer hinzuschauen, was sich hinter dem Begriff Digitaler Zwilling verbirgt und was Anwender zu erwarten haben.
Durch eine Weiterentwicklung der Spieletechnologie und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) ist es gelungen, Kosten und Hürden für die Erstellung von Digitalen Zwillingen signifikant zu reduzieren und damit eine skalierbare Lösung für viele Anwendungsbereiche zu schaffen.
Objekte machen aus Modellen wertvolle Werkzeuge
Mit Building Information Modelling (BIM) haben 3D-Modelle von geplanten Bauwerken Einzug in die Welt des Planens und Bauens erhalten. Durch BIM-Modelle plant die Bauwirtschaft endlich auch mit Objekten. Eine weiße Linie auf schwarzem Grund, die früher mit etwas Glück auf einem sinnvoll benannten Layer gezeichnet war, weiß heute von sich, dass sie beispielsweise eine Starkstromleitung ist.
Objekte ermöglichen zudem die Verknüpfung und Verlinkung von Attributen und anderen Informationen, die außerhalb des Geometrie-Modells verwaltet werden. Dieses simple Prinzip sorgt für einen veränderten Umgang mit Daten und Informationen im gesamten Lebenszyklus von Bauwerken und technischen Anlagen – auch während der Betriebs- und Produktionsphase.
Warum? Die Semantisierung von 3D-Modellen ermöglicht unzählige Einsatzbereiche digitaler 3D- Modelle für Planung, Visualisierung, Steuerung, Training, Wartung oder Optimierung von Unternehmensprozessen. Informationen, die bislang in komplexen Baumstrukturen, technischen Plätzen oder Systemdatenbanken nur einer geringen Anzahl technisch versierter Personen zugänglich waren, können nun – unter Einhaltung aller erforderlichen Datensicherung- und Zugriffsregelungen – intuitiv durch Ansteuerung des betreffenden Objekts oder Raums im 3D- Modell gefunden werden. Dadurch wird der Digitale Zwilling zum Rückgrat des Daten- und Informationsmanagements.
3D-Modelle vom Bestand, die garantiert keinen Staub ansetzen
Was aber geschieht mit Anlagen, die schon seit vielen Jahren bestehen und betrieben werden und bei denen kein BIM-Modell vorhanden ist? Es existieren nur 2D-Zeichnungen oder alte Dokumente in einem Archiv. Hier müssen Methoden gefunden werden, den Bestand in ein objekt-basiertes 3D-Modell zu überführen.
Weit verbreitet ist hierbei die Aufnahme von bestehenden Gebäuden, Brücken, Bahnstrecken oder technischen Anlagen mit terrestrischen oder drohnengestützten Scannern, aus denen hoch genaue farbige oder monochrome Punktwolken generiert werden. Nachteile dieses Verfahrens: hohe Datenmengen, die von der Standard-Hardware der Betreiber oft nicht bewältigt werden können, sowie eine fehlende Semantik. Es fehlen also genau die Objekte, die dem Modell den Mehrwert geben.
Ein weiterer Nachteil sind die hohen Kosten, die für die Datenaufnahme mit Präzisionsscannern anfallen. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Betreiber großer Anlagen auf Terrabytes von teuren Punktwolken sitzen, die auf externen Festplatten in Regalen Staub ansammeln, da nach der Erstaufnahme keine Semantisierung und Prozessierung der Daten erfolgt ist und die Daten damit für den Besteller wertlos sind.
Realraum-Modelle mit KI und Spieletechnologie
Dipl.-Ing. Kim Jung, heute unter anderem CTO und Teilhaber von LocLab, ist einer der Pioniere in der Erstellung von Realraum-Modellen. Sein Interesse an 3D-Welten resultiert aus seiner Leidenschaft am Spiel. Schon vor zwanzig Jahren entwickelte er virtuelle Spielewelten, von denen er wusste, dass sie nur erfolgreich wurden, wenn sie für die Spieler ein Erlebnis waren. Sie mussten real anmuteten und dabei hoch performant auch auf Rechnern mit geringer Leistung und wenig Speicherplatz funktionieren – ohne Ruckeln und Sanduhr.
Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelte er auf Basis einer semi-automatisierten Methode eine ausgereifte Technologie, deren Potenzial zur Skalierung in der Nutzung Digitaler Zwillinge unverzichtbar ist. Das LocLab-Verfahren bringt gleich eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich. Die Kosten für die Datenaufnahme können signifikant reduziert werden, denn die Produktion der Modelle basiert auf terrestrischer Photogrammetrie oder Videogrammetrie mit Hilfe von einfachen Digitalkameras. Aus den Eingangsdaten werden in einem semi-automatisierten Verfahren datenschlanke Vektormodelle errechnet. Eine Muster- und Objekterkennung sorgt anschließend für die Semantisierung, also die Erstellung von Objekten in den Modellen.
Der 3D-Produktionsprozess im Detail
Schritt 1 – Datenaufnahme
Für jede 3D-Modellierung braucht es zunächst eine Datenbasis, wobei die Datenaufnahmeverfahren sehr unterschiedlich sind in Vorgehensweise und Aufwand. Ein erheblicher kostensparender Faktor der hier vorgestellten Methode besteht darin, dass eine hohe Qualität der 3D-Modelle auf der Basis normaler Fotos erreicht werden kann. Das bedeutet, dass als Eingangsdaten lediglich Fotos aus der Fußgängerperspektive und einige Referenzmaße benötigt werden. Eine aufwändige und teure Datenaufnahme oder Punktwolken mit extrem großen und sperrigen Datenvolumen sind erstmal nicht erforderlich.
Ein Beispiel: ein Hauptbahnhof in der Größenordnung von Karlsruhe erfordert circa drei Mannstunden für die komplette Datenaufnahme aller Publikumsbereiche inklusive Außenbereich, Bahnhofshallen, Verteilerebenen, Querbahnsteige und aller Bahnsteige und Fußgängertunnel.
Schritt 2 – 3D-Modellierung
In dem hier vorgestellten Verfahren erfolgt die eigentliche 3D-Modellierung semi-automatisiert auf Basis einer ToolChain, die man sich wie ein Fließband von Algorithmen zur Prozessierung der Eingangsdaten vorstellen kann. Zunächst wird aus den digitalen Fotos eine sogenannte Masterfotografie erzeugt. Diese wird üblicherweise mit Hilfe von Geo-Informationen, zum Beispiel aus Katasterplänen, GPS der Kamera oder anderen Quellen verortet. Da Fotos zunächst maßstabslos sind, wird in der Masterfotografie mindestens ein Referenzmaß benötigt. Dies kann entweder vor Ort aufgenommen oder beispielsweise aus Katasterplänen entnommen werden.
Für die Erstellung eines 3D-Modells aus der Masterfotografie werden die Prinzipien der darstellenden Geometrie genutzt – allerdings umgekehrt. Die Algorithmen errechnen aus den stürzenden Linien und Fluchtpunkten in der Masterfotografie die Verhältnisse der Längen zueinander. Durch das bekannte Referenzmaß sind die Algorithmen in der Lage, alle erforderlichen Längen zu errechnen und ein 3D-Modell zu erzeugen.
Mit dieser Methode kann bei Gebäuden und Brücken eine Genauigkeit von vier bis zehn Zentimeter erreicht werden. Diese Genauigkeit ist für sehr viele Anwendungsfälle ausreichend, wie beispielsweise Visualisierung, Indoor-Navigation, teilweise auch Monitoring und Facility Management. Auch für frühe Planungsphasen zum Variantenentscheid oder für eine Machbarkeitsstudie reicht diese Genauigkeit in der Regel aus. Falls nicht, kann die Geometrie des Modells zu jedem gewünschten Zeitpunkt mittels weiterer Daten rekalibriert werden.
Schritt 3 – Vektorisierung und Semantisierung des 3DModells
In der ToolChain laufen zur weiteren Verarbeitung des 3D-Modells eine Reihe von Algorithmen ab. Zunächst werden durch Mustererkennung Vektoren erkannt und gesetzt. Im Anschluss an die Vektor- und Musterdetektion erfolgt die automatisierte Objekterkennung und damit der wichtigste Schritt in der Semantisierung.
Das Herz der hier geschilderten Technologie bildet eine umfassende und gut strukturierte Objektbibliothek, die aus geometrischen Repräsentanzen der bebauten und der natürlichen Umwelt besteht. Sie umfasst bis zu elf Detaillierungsgrade (LoD), um verschiedenen Anforderungen optimal gerecht werden zu können.
Algorithmen in der ToolChain detektieren Objekte auf Basis der gesetzten Vektoren. Die Objekte werden mit den Objekten in der Bibliothek verglichen. Bei einer Übereinstimmung werden Instanzen aus der Bibliothek in die Szene referenziert. Dadurch wird neben der Semantisierung die außergewöhnliche Datenschlankheit der Modelle erreicht, da die datenschweren Pixel und Rasterdaten durch Vektoren ersetzt werden. Die beschriebenen Vorgänge laufen semi- bis vollautomatisch ab und nutzen die Fähigkeit von Algorithmen zu lernen und sich selber stetig zu verbessern – allgemein als künstliche Intelligenz bezeichnet.
Schritt 4 – Übergabe und Nutzung der Modelle
Viele Auftraggeber möchten 3D-Modelle anschauen und bedienen können, ohne dafür eine spezielle Software installieren zu müssen. Daher liefert LocLab die Modelle zur Visualisierung und Kommunikation in einem eigenen Player. Dieser Player basiert auf einer Games-Engine, die für eine Darstellung von 3D-Realraummodellen optimiert wurde. Er kann als ausführbare Datei (.exe) oder in Form einer WebGL-Anwendung für eine Betrachtung im Browser ausgeliefert werden.
Die maßgeblichsten Unterschiede des Viewers im Vergleich zur Standard-Games-Engine liegen im Geo-Daten-Layer, denn normalerweise können Game-Engines Geo-Koordinaten nicht berechnen, sowie in der Möglichkeit, eine weitaus größere Anzahl individueller Objekte in der Szene zu verwalten. So können auch sehr große Szenen, die beispielsweise mehrere hundert Kilometer lange Streckenkorridore umfassen, noch in einem Modell abgebildet werden.
Neben dem Player als Standard-Ausgabeformat können eine Reihe von weiteren Formaten ohne nennenswerten Mehraufwand aus der ToolChain exportiert werden. Zunehmend werden web-gestützte Applikationen angefragt, die vollständig unabhängig von der Hardware des Betreibers genutzt werden können. Dazu wird der Player in einer WebGL-Version ausgespielt.
Für Umplanungen wünschen die Auftraggeber häufig editierbare CAD-Modelle in nativen Formaten mit Objektbezug. Trainingsanwendungen werden oft als Virtual Reality- (VR) oder Augmented Reality- (AR) Formate angefragt, die mit entsprechenden 3D Brillen genutzt werden. Auch Filme oder Renderings können aus den Modellen heraus effizient erstellt werden.
Anwendungsfälle für Digital Twins
Die Einsatzbereiche Digitaler Zwillinge sind vielfältig: von der politischen Mediation bei der Planung großer Bauvorhaben über Schulungen in einer virtuellen Umgebung bis zur Prozess- und Funktionsoptimierung von Maschinen und Anlagen.
Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation
Durch die Visualisierung von heutigem Bestand und verschiedenen Planungsvarianten helfen digitale Echtzeitmodelle Anwohnern und Betroffenen, die Auswirkungen geplanter Veränderungen zu verstehen. Es können ganze Stadtviertel oder Stromtrassen bis zu einzelnen Bauvorhaben oder Verkehrs- und Klimaschutzmaßnahmen verständlich, real und interaktiv dargestellt werden. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben im April 2020 eine geplante Anwohnerinformationsveranstaltung am digitalen Modell während Corona-Zeiten kurzerhand als Online-Veranstaltung durchgeführt und dafür viel Lob und Dank von den Anwohnern erhalten.
Bestandsmodellierung und Planungsoptimierung
Bauherren stehen häufig vor der komplexen und schwierigen Aufgabe, sich aus mehreren Planungsvarianten für eine Vorzugsvariante zu entscheiden. Im digitalen Zwilling können effizient Vergleiche verschiedener Varianten angestellt werden. Weiterhin kann durch den Dialog der Fachleute und Experten aus verschiedenen Disziplinen am Modell die Planung optimiert werden.
Simulation und Prozessoptimierung
Bei diesen Anwendungsfällen spielen die Objekte und Informationen im Digitalen Zwilling eine wichtige Rolle. Durch sie können Produktions- und Logistikvorgänge effizienter gestaltet und beispielsweise der Arbeitsschutz der Mitarbeiter verbessert werden. Ersatzteile können durch Klicken im digitalen Modell bestellt, Abläufe und Prozesse am digitalen Zwilling geplant und simuliert werden. Semantische Digital Twins lassen sich mit Simulatoren oder Datenanalyse-Software wie Apache Kafka verknüpfen. Damit können am digitalen Modell verschiedene Szenarien durchgespielt und dabei wichtige Erkenntnisse gesammelt werden. So lassen sich zeit- und ressourcenintensive Aktivitäten besser planen und kontrollieren.
Asset und Facility Management
Fast alle Betreiber großer Portfolien von Anlagen und Gebäuden verfügen über eine beträchtliche Menge von Daten und Informationen in verschiedenen Formaten und Qualitäten. Über eine Verlinkung am digitalen Zwilling sind diese Daten nicht nur schneller auffindbar, sie können durch den sichtbaren räumlichen Zusammenhang am digitalen Modell auch andere Erkenntnisse bereitstellen. In der Kombination mit Echtzeitdaten aus Sensorik und IoT können aus den Daten Anomalien erkannt werden, die auf mögliche Probleme und einen Bedarf für Wartungsmaßnahmen schließen lassen.
Training und Lernen
Wer sich mit Virtual Reality in 3D-Welten bewegt, lernt leicht und spielerisch. Egal ob allein oder im Wettbewerb, das Training am virtuellen Modell steigert die Motivation, bringt große Lernerfolge und bietet gleichzeitig mehr Sicherheit. Am digitalen Modell sind aktive und passive sowie gerichtete und ungerichtete Trainingsanwendungen möglich, die mit geringem Aufwand konfiguriert und durchgeführt werden können.
Fazit
Für einen Großteil der Anwendungsfälle für Digitale Zwillinge wird keine millimetergenaue Geometrie benötigt, sondern Semantik und Objekte. Diese Erkenntnis hilft Kosten zu senken und bedarfsgerechte Datenmodelle bereitzustellen, die den Anwendern einen echten Mehrwert bieten.
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Variantendarstellung am Beispiel Berlin Adlershof. Eine Straßenbahnhaltestelle wird in verschiedenen Varianten in eine existierende Stadtlandschaft integriert, Bild: Berliner Verkehrsbetriebe BVG
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Facility Management am Beispiel des Rheinbads Düsseldorf. Über eine Verknüpfung aller im Modell vorhandenen Objekte werden Bestell-, Wartungs- und Reparaturzyklen intuitiv organisiert und umgesetzt, Bild: Deutschen Gesellschaft für das Badewesen und dem Rheinbad Düsseldorf
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Objekterkennung am Beispiel Fenster. Das System erkennt das Objekt Fenster und speichert es in der Bibliothek ab. Das Ziel: Wiederkehrende Elemente müssen nicht neu konstruiert werden, sondern werden über Mustererkennung ins Modell eingesetzt, Bild: Loclab Consulting
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Darstellung der Toolchain – aus Daten werden Digitale Zwillinge, Bild: Loclab Consulting
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