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11.09.2019 | Interview: Jürgen Winkler

„Die Bauindustrie ist ein unheimlich behäbiger Apparat“

Architekten im Interview

Christoph M. Achammer ist CEO von ATP architekten ingenieure. Kultiviert, aber bestimmt, spricht der Innsbrucker über BIM, die Ignoranz der öffentlichen Hand und die Verschwendung in der Bauwirtschaft.

Prof. Achammer, seit wann arbeiten Sie mit der BIM-Methodik?

Wir fangen gerade erst richtig an. 2011 haben wir entschieden, uns intensiv mit objektorientierter Planung zu beschäftigen. Dafür wurden von uns objektorientierte Programme evaluiert. Nach der Evaluierung setzten wir 2012 das ausgewählte Programm flächendeckend an mehreren Standorten in einzelnen Projekten ein, als Learning by Doing. Nach diesen Erfahrungen wurden ab 2014 für das gesamte Unternehmen eigene Standards entwickelt. Seit 2014/2015 arbeiten wir an allen zehn Standorten miteinander verbunden integral, also in den Bereichen Architektur, Tragwerksplanung und Haustechnik, ausschließlich in digitalen Modellen.

Sie sprechen von digitalen Modellen, nicht von BIM.

Ja, Sie merken, dass ich vor dem allgemeinen Begriff BIM zurückschrecke. Wir arbeiten mit digitalen Modellen. Wenn ich sage, wir beginnen jetzt erst so richtig mit BIM, heißt das, dass wir uns in einem kontinuierlichen Prozess befinden, was wir aus den digitalen Modellen informationstechnisch ableiten können. Das ist ein fortlaufender Prozess.

Für welches Programm haben Sie sich nach der Evaluierung entschieden?

Wir haben uns für Revit entschieden. Revit ist aus unserer Sicht das einzige Programm, das in der Lage ist, die drei wesentlichen Planungsbereiche Architektur, Tragwerksplanung und Haustechnik abzudecken. Ich sage immer ganz frech, es gibt viel bessere Architekturprogramme, es gibt bessere Tragwerksplanungssoftware, es gibt gleichwertige Haustechnikprogramme. Aber es gibt kein Programm, das alle drei Planungsbereiche so zu unterstützen imstande ist wie Revit. Für die Älteren unter uns: Revit ist die HiFi-Anlage der BIM-Welt. Die Jüngeren wissen nicht mehr, was HiFi ist (lacht).

Ich weiß es, ich höre sogar noch Musik von Schallplatten. Bei ATP architekten ingenieure arbeiten alle drei Planungsbereiche unter einem Dach?

Eines unserer Unterscheidungsmerkmale am Markt besteht darin, dass wir kontinuierlich integral arbeiten. Das heißt, Architekten, Tragwerksplaner und Haustechniker – letztere vor allem für HKLS, Elektro und MSR – sind ATP-Mitarbeiter. Sie arbeiten in interdisziplinären Teams und üben diese Zusammenarbeit seit über 40 Jahren.

Damit schaffen Sie Ihr eigenes Closed BIM.

Korrekt. Wobei ich glaube, dass die Thematik Closed BIM überschätzt wird. Die Kommunikation mit Dritten ist zwar auch ein technisches Problem. Aber das hat keine Priorität, sie ist ein intellektuelles und ein kulturelles Problem.

Warum?

Wir werden in unserer Planungsbranche von der Berufswahl über die speziellen Ausbildungen bis zu den Erfahrungen trainiert, nicht integral zu arbeiten. Jeder arbeitet für sich. Der Gipfel dieser Abgrenzung ist in der HOAI schriftlich niedergelegt. Darin steht, dass der Architekt die Ergebnisse der Fachplaner in seinen Entwurf integriert. Das ist das semantische Bekenntnis, nicht integral arbeiten zu wollen. Integral heißt, dass ein Tragwerksplaner, ein Haustechniker und ein Architekt vor einer Aufgabe sitzen und sich fragen, wie bauen wir gemeinsam das beste Haus.

Das wird mit BIM Geschichte sein.

Nicht unbedingt. In den vergangenen 100 Jahren wurde das abteilige Arbeiten gelehrt. Der Architekt macht einen Entwurf, der Tragwerksplaner modifiziert den Entwurf, sehr zum Ärger des Architekten, weil der Planer Stützen dorthin stellt, wo sie der Architekt nicht gebrauchen kann, und die Haustechnik fordert plötzlich Räume, Schächte und Anlagen, um das Haus bewohnbar zu machen. So können Sie auch mit BIM arbeiten.

Das ist aber nicht der Sinn der BIM-Methodik.

Natürlich nicht. Ich glaube, die Digitalisierung des Bauwesens ist in erster Linie ein kulturelles¬ und intellektuelles Thema. Wenn sich dieses Thema verbessert, wird die Digitalisierung in einem ganz anderen Maß effizient werden, bis hin zum Building Information Modeling. Die Bauindustrie hinkt bei der Digitalisierung noch hinter der Landwirtschaft her. Das liegt nicht daran, dass in der Bauindustrie nur dumme Menschen agieren. Der Grund besteht darin, dass die Kultur der Zusammenarbeit in der Bauindustrie in den vergangenen 100 Jahren vernichtet wurde.

Vernichtet?

Ja, vernichtet.

War es vorher anders?

Erst Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte die Aufspaltung in Architekten und Ingenieure. Das ist jetzt fast 150 Jahre her. Die Innovationstreiber des Bauens kommen aus der industriellen Anwendung. Weder der Stahlbeton wurde von einem Architekten erfunden noch der Stahlbau, die Haustechnik oder die Verwendung von Glas. Eine Zusammenarbeit gab es vielleicht zum letzten Mal bei der Bauhauskultur, wo der Kunstmeister und der Werkmeister gemeinsam arbeiteten. Sie haben es Zusammenführung von Technik und Kunst genannt. Einen Universalbaumeister gibt es kaum noch in einer Person. Den gibt’s im Team.

Wir kennen das aus anderen Beispielen der Industrie. Vor 40 bis 50 Jahren wurden Autos abteilig entwickelt, mit dem Effekt, dass es nach dem ersten Entwurf 60 Monate dauerte, bis das Auto auf der Straße war. Heute wird das Auto nach fünfzehn Monaten ausgeliefert, weil mit Beginn des Designs alle Leute am Tisch sitzen und gemeinsam überlegen: Wie bauen wir das Auto? Davon sind wir im Bauwesen noch ein Stück entfernt.

Ein Kulturwechsel braucht seine Zeit.

Ja, das ist ein Generationenthema. Deshalb nehme ich die Professur wahr, weil ich meine Studierenden in diese Richtung bewegen kann. Die Studierenden sind alle motiviert, weil sie sehen, dass der kollaborative, integrale, interdisziplinäre Ansatz zu viel besseren Häusern führt.

Wie schätzen Sie die Unterstützung durch die Politik ein, um die Bauindustrie zur Modernisierung zu bewegen?

Vor vier Jahren hat der damalige Bauminister Dobrindt in Deutschland den Stufenplan zur Einführung von BIM vorgelegt. Dann ist er gleich zurückgerudert und hat gesagt, wir beginnen erst mal bei der Infrastruktur. In Wirklichkeit ist überhaupt nichts da. Die einzigen Länder, die radikal BIM einführen, sind Großbritannien, die skandinavischen Länder und jetzt die Schweiz.

Ist die Politik überhaupt wichtig für die Einführung von BIM? Sollte man das nicht der Bauindustrie überlassen?

Nein, das ist eine unbedingte Aufgabe der öffentlichen Hand. Sie verantwortet 30 bis 40 Prozent des gesamten Bauvolumens, in manchen Ländern sogar mehr. Wenn die öffentliche Hand sagt, wir wollen ab Tag X mit Methode Y arbeiten, dann entsteht ein großer Veränderungsdruck. Das passiert aber nicht, weder in Deutschland noch in Österreich. In der Schweiz passiert es.

Auch nicht in Österreich? Mein Eindruck war bisher, dass die Digitalisierung der Bauindustrie in Österreich und der Schweiz fortgeschrittener sei als in Deutschland.

Nicht mit Hilfe der öffentlichen Hand. Von der öffentlichen Hand wird Österreich bei der Digitalisierung der Bauindustrie mit derselben massiven Ignoranz behandelt wie in Deutschland, vielleicht noch mehr als in Deutschland. Österreich ist bei der Digitalisierung der Bauindustrie nur deshalb weiter als Deutschland, weil es hier eine Handvoll engagierter Unternehmer in Planung und Bauausführung gibt, die sich zusammensetzen und nicht auf die Legislative warten. Die nehmen das selbst in die Hand. Dadurch sind wir vor vier bis fünf Jahren ordentlich vorangekommen, zum Beispiel beim Merkmalserver. Im Moment stockt es allerdings etwas.

Was raten Sie Studierenden, die nach dem Abschluss zu Ihnen kommen und sagen, wir wollen ein Büro gründen und mit BIM arbeiten?

Studierende müssen ihre Entwurfsarbeiten bei mir interdisziplinär erarbeiten. Das ist mein Vorteil, dass ich sowohl für Architekten als auch für Bauingenieure lehre. Die Studierenden, die dafür Entwürfe erstellen, müssen BIM-Modelle abliefern. Das sind Semesterarbeiten, die intensiv¬ betreut werden. Danach können sich die angehenden Architekt_innen und Ingenieur_innen perfekt in diesem BIM-Modell bewegen.

Für die Studierenden heißt die Frage also nicht, BIM oder kein BIM. Sie arbeiten einfach mit BIM.

Ja.

Kann es dann nicht zum Clash der Kulturen kommen, wenn Ihre Studierenden nach dem Abschluss
in Büros arbeiten, in denen BIM ein Fremdwort ist?

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass diese Absolventen in vielen Büros mit einem Gehaltsplus von 20 oder 25 Prozent eingestellt werden, damit sie dort BIM einführen. Die Büros, die nichts von BIM wissen wollen, sind keine relevanten Arbeitsstellen für unsere Absolventen.

Sie bilden die Experten aus, die die Digitalisierung der Bauindustrie vorantreiben.

Experten sind sie nicht, sie tragen den Keim des Expertentums in sich. Wobei ich den Begriff des Experten ablehne.

BIM ohne Experten?

Wir beschäftigen über 800 Mitarbeiter in Europa und haben keine BIM-Abteilung. In jedem Teilbüro gibt es einen BIM-Officer, der kümmert sich unter anderem um die Weiterentwicklung von BIM. Wir haben BIM-Manager, das sind Architekten, Tragwerksplaner und Haustechniker, die in der täglichen Projektarbeit stecken und die BIM-Themen des gesamten Standorts koordinieren. In jeder Architektur-, Tragwerksplanungs- und Haustechnikgruppe gibt es einen Super User. Das ist einer, der BIM besonders gut beherrscht und auf dem First Support Level Fragen von Mitarbeitern beantwortet, die sich noch nicht so gut mit BIM auskennen. BIM-Officer, BIM-Manager und Super User sind aber normale Angestellte. Wir haben im gesamten Unternehmen keine einzige Stabsfunktion für BIM.

Das klingt verblüffend.

Ich glaube, dass das ein Teil unseres Erfolgs ist. Darum habe ich auf das Wort Experten so energisch reagiert. Wenn Sie in einem Büro Expertentum pflegen, entsteht eine Sondergruppe, die kein integraler Teil des Planungsprozesses ist. Das kann‘s nicht sein, dass jemand konventionell vor sich hin friemelt, seine Arbeit den BIM-Leuten gibt, und die machen ein Modell draus.

Ist ATP architekten ingenieure mit dieser Struktur typisch für Österreich?

Wir beschäftigen nur etwa 30 Prozent unseres Personals in Österreich. Wir sind ein europäisches Büro, der Größe nach die Nummer vier in Europa. Die drei stärkeren Mitbewerber kommen aus Großbritannien und Skandinavien, sie engagieren sich aber intensiv im Mittleren und Fernen Osten. Dort sind wir nicht vertreten, unsere Heimmärkte sind Deutschland, Österreich und die Schweiz. Unser Kernmarkt liegt zwischen dem Baltikum und Griechenland, unser einziger Exportmarkt ist Russland. Dort betreiben wir ein Büro mit 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Was die positive Haltung zur Digitalisierung betrifft, da gibt es in Europa nur wenige Büros, und zu denen zählen wir.

Gibt es einen Austausch zwischen den europäischen Büros?

Zweimal im Jahr treffen wir uns mit den großen Anwendern von Revit. Da bewegen wir uns durchaus auf einer Ebene, auf der wir unser ganzes Wissen miteinander austauschen. Dort sind große skandinavische und englische Büros vertreten, auch zwei deutsche Büros. Auf diesen Treffen sehen wir, dass wir im Bereich der integralen Anwendung in Österreich eigentlich allein stehen. In der Architekturanwendung gibt es Leute, die mindestens so gut sind wie wir. Die erkennen auch in diesem Austausch die Erleichterung, wenn man integral arbeitet.

Wie organisieren Sie die integrale Planung in Ihrem Büro?

Wir haben unsere Leistungsbilder verändert. 30 Prozent unserer Auftraggeber benutzen bereits diese Leistungsbilder. In der Planung gibt es ein einziges Leistungsbild, das heißt „Prozessführung Planung“, und dann gibt es in jeder Leistungsphase nur noch Ergebnisunterlagen von Architektur, Tragwerksplanung, Brandschutz, Haustechnik usw. Sie beschreiben, welche Inhalte im Modell enthalten sind, welche Inhalte aus dem Modell ableitbar sind und welche Inhalte noch nicht oder überhaupt nicht im Modell vorhanden sind. Wir bilden beispielsweise nicht die Baustelleneinrichtung oder die Winterheizung im Modell ab.

Dieses Leistungsbild ist keine Leistungsbeschreibung von sechs oder sieben Disziplinen, die parallel über alle Leistungsphasen arbeiten, sondern die Definition der notwendigen Ergebnisunterlagen. Wir nennen sie in unserer BIM-Sprache die großen Content Sheets: Was ist der Content der Vorplanung oder der Entwurfsplanung über alle Disziplinen hinweg? Es ist ja schwierig zu sagen, in einer BIM-Welt modelliert der Architekt ein Gebäude, damit daraus Polierpläne entstehen, und der Tragwerksplaner modelliert, damit daraus Schalpläne werden. Das ist ja obsolet. Man modelliert ein Objekt in einer Definition, damit man es in Beton bauen kann.

Verlangen Ihre Auftraggeber ein 3D-Modell oder noch 2D-Pläne?

Das ist eine Frage der Definition. 3D ist für mich kein Kriterium, 3D ist eine symbolische Darstellung wie 2D. Wir haben 1.000 Jahre lang in 3D gearbeitet. Wenn wir von der virtuellen Darstellung eines Gebäudes mit Informationsinhalten sprechen, dann ist das abhängig von den Kundengruppen. Die Industrie verlangt das zu 100 Prozent. Das sind Produktionsbauten, Labore, Lager oder Häuser für Forschung und Entwicklung. Die Projektentwickler der Real-Estate-Industrie verlangen es zu 30 bis 35 Prozent. Krankenhausbau zu 50 Prozent oder weniger, was erstaunlich ist, weil virtuell umso wichtiger ist, je komplexer die Gebäude sind. Der Wohnbau verlangt es gar nicht, wobei wir Wohnbau kaum machen.

Werden Ihre 3D-Modelle vom Auftraggeber weiter genutzt?

Zum Teil. Beim Übergang von der Planung und der Abbildung des As-built-Modells in ein CAFM-Modell sind es nicht mehr als 15 Prozent der Projekte. Dabei üben wir aber eine Pilotfunktion aus. Es besteht nämlich der große Irrtum, dass der Wissensaufbau im Zuge der Planung und Errichtung online in den Betrieb übergehen soll. Das ist Unsinn. Es entstehen im Rahmen der Errichtung Datenvolumen, die für den Betrieb vollkommen uninteressant sind. Für diesen Prozess haben wir intern einen Weg gefunden, um dem Ausführenden ein Modell zu übergeben, das wir as-planned nennen. Wir Planer begleiten dieses Modell zu einem As-built-Modell, aber nur dann, wenn der Kunde im selben Level of Detail arbeiten will – oder wenn das ausführende Unternehmen alternative Vorschläge macht, die von uns und dem Bauherrn akzeptiert werden und die für das Level of Detail relevant sind. Dann verändern wir das und führen damit auf unserem Level of Detail ein generisches As-planned-Modell zu einem generischen As-built-Modell.

Danach kommt der nächste Schritt, den wir als Zusatzauftrag machen. Wir überführen das generische As-built-Modell in ein reales As-built-¬Modell. Das betrifft in erster Linie die technischen Gebäudeausrüstungen. Dann steht dort nicht mehr „Lüftungsgerät 500 Kubik¬meter pro Stunde“, sondern „Hersteller, Artikelnummer“ usw. Dieses reale As-built-Modell, das immer noch im selben Level of Detail gebaut ist, übergeben wir dem Facility Management. Das bezieht diese und weitere Daten zum Aufbau ihres CAFM. Ich glaube, dass das der vernünftigste Datenfluss ist, weil die heutigen CAFM-Modelle sehr unterschiedliche Datenanforderungen haben. Mit unserer Methode bleibt der Aufwand der Überführung gering.

Das ist ein Prozess, den Ihr Büro erarbeitet hat. Andere Büros gehen eigene Wege. Ist es nicht sinnvoll, diesen Prozess zu vereinheitlichen?

Wir teilen unsere Erkenntnisse mit allen. Unser gesamtes Content Management und unsere eigenen Standards haben wir online auf bimpedia.eu dokumentiert. Das ist kostenlos abrufbar. Ich glaube, auf Industrieebene wird es gewisse einheitliche Vorgangsweisen geben. Im Wesentlichen müssen wir uns nur über einheitliche Prozesse einigen, nicht über Inhalte. Was ich Ihnen eben zur Überführung ins Facility Management gesagt habe, bietet eine große Variabilität in der Sache selbst. Aber es gibt immer noch Unternehmen und Consultants, die sagen, wir bleiben beim n linearen Durchgang, von einem anderen Prozess halten wir nichts.

Das dürfte sich mit der neuen Generation ändern, die jetzt die Unis verlässt. Bekennen sich Ihre Studierenden zur kollaborativen Arbeit?

Absolut. Die sind begeistert von dieser Idee. Die wollen das so, aber sie treffen noch auf Ausbildungsstrukturen, die zum Großteil ganz anders ticken. Auch das ist ein Generationenthema. Wenn die alten Professoren in Pension gehen, gibt es neue, die dafür offen sind. Auch getrieben durch den Anspruch der Digitalisierung, die dafür zweifellos ein Katalysator ist. Ich glaube, der zweite Treiber ist die Änderung der Struktur der Planer. Deutschland, Österreich und die Schweiz haben eine sehr kleinteilige Planerstruktur. Das wird sich meiner Meinung nach dramatisch verändern. Wir stehen vor einem Konsolidierungsprozess. Einige Länder in Europa haben ihn schon hinter sich. In Skandinavien gibt es Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern.

Die kleinen Büros in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die nur drei, fünf, acht Mitarbeiter beschäftigen, müssen sich neu orientieren?

Mit drei, fünf, acht Mitarbeitern, da gehen Sie so locker drüber. 85 Prozent der Büros in Deutschland beschäftigen ein bis drei Mitarbeiter. Über drei Mitarbeiter zählt schon zu KMU (kleine und mittlere Unternehmen, Anm. d. Red.). Ich glaube, diese Konsolidierung wird entweder über Netzwerke oder ökonomische Firmenverbände, wie immer die auch aussehen, stattfinden.

Wie lange wird der Prozess der Konsolidierung dauern?

Das ist schwer zu sagen. Die Bauindustrie ist ja ein unheimlich behäbiger Apparat. Wenn es nur aus der Bauindustrie heraus passiert, wird man im Zeitraum einer Generation denken müssen. Durch den Umstand, dass wir hier in einer Industrie arbeiten, die bei Planen und Bauen immer noch 30 bis 50 Prozent Verschwendungspotenzial in sich trägt, wird es vermutlich Initiativen von außerhalb unserer Industrie geben. Diese Initiativen werden versuchen, das Verschwendungspotenzial zu heben, und dann geht es viel schneller.

Außerhalb heißt durch die Europäische Union?

Außerhalb des Bauens. So wie Airbnb gegen die Hotelindustrie und Uber gegen die Taxiunternehmen. Etwas in dieser Art wird kommen.

Aus sich selbst heraus wird sich die Bauindustrie nicht so schnell erneuern?

Nur wenn die Not größer wird. Wenn die Bauindustrie von außen angegriffen wird.

Wie von Google? Der Konzern will in der San Francisco Bay Area eine Milliarde Dollar in den Bau von 15.000 Wohnungen investieren.

Ja, zum Beispiel. Wenn heute jemand Private-Equity-Investor ist und erkennt, dass es eine riesige Industrie gibt, die mit 30 bis 50 Prozent Verschwendungspotenzial nur zwei Prozent EBIT (Gewinn vor Zinsen und Steuern, Anm. d. Red.) erzielt, dann müsste er eigentlich sagen: Hier investiere ich.

Wo entsteht dieses Verschwendungspotenzial?

Im gesamten Prozess. Sie können jeden einzelnen Teilprozess des Planens und Bauens nehmen, Sie werden die Verschwendung an jeder Stelle erleben. Über 80 Prozent aller verbauten Güter, vom Zement bis zum Lichtschalter, werden über den Großhandel beschafft. Das leistet sich keine Industrie außer der Bauindustrie. Wenn Sie in die Bilanzen der Großhändler schauen, finden Sie schon die ersten zweistelligen Beträge des Verschwendungspotenzials. In der Organisation der Planung gibt es mindestens 30 Prozent Verschwendung allein durch den Prozess, den die HOAI vorschreibt.

Muss die Bauindustrie nicht auch anfangen, den CO2-Ausstoß zu verringern?

Natürlich. Es ist ein Skandal, dass das nicht passiert. Die Automobilindustrie hat auf internationaler Ebene vereinbart, über 95 Prozent ihres Produktes Automobil dem Recycling zuzuführen. Die Bauindustrie krebst bei 15 Prozent herum. Mehr Recycling macht die Bauindustrie nicht freiwillig, da wäre die öffentliche Hand gefragt. Die öffentliche Hand mischt sich in Dinge ein, die sie gar nichts angeht, setzt aber keine Rahmenbedingungen, die nur die öffentliche Hand setzen kann. Der Markt ist das einzig richtige Instrument, um Effizienz zu erzielen, aber Effektivität kann er nicht erzielen. Der Markt hat kein Gewissen. Er handelt dort, wo es am schnellsten geht. Um den Markt zur Effektivität zu zwingen, braucht er Rahmenbedingungen der öffentlichen Hand.

Sie meinen Rahmenbedingungen wie z. B. die Wärmeschutzverordnung?

Um CO2 einzusparen, ist eine Wärmeschutzverordnung das dümmste, was es gibt. Es geht nicht um Wärmeschutz, sondern um CO2-Reduzierung. Wenn ich ein Haus mit U-Werten baue, die einer Papierwand gleichen, aber die gesamte Energie aus der Sonne beziehe, geht das den Staat gar nichts an.  

Ist die Renaissance des Holzbaus der richtige Weg?

Absolut. Holz ist ein faszinierender Baustoff. Es ist der einzige Baustoff, der nachwächst. Holz ist in allen drei Dimensionen, also x, y, z, beanspruchbar. Holz ist in der Lage, in der Losgröße 1 industriell bearbeitet werden zu können. Mit Stahl geht das in gewisser Weise auch, bei Beton wird es schon schwerer. Deshalb glaube ich, dass Holz ein ganz starker Trend für das industrielle Bauen ist. Wir bauen ja nicht industriell. Die Verschwendung resultiert auch daraus, dass wir immer noch bauen wie vor 100 Jahren. Eine Ziegelwand aufzustellen hat sich in den vergangenen 100 Jahren nicht wesentlich geändert. Ich sage meinen Studierenden immer, wenn ihr die Verschwendung in der Bauindustrie nicht glaubt, dann überlegt mal, warum ein Badezimmer im sozialen Wohnungsbau so viel kostet wie ein PKW der Mittelklasse.

Sinken durch die Digitalisierung der Bauindustrie die Kosten?

Natürlich. Wenn es uns gelingt, dieses Verschwendungspotenzial zu heben, wird ein Teil davon in die Gewinne umgelenkt, die die Bauindustrie eigentlich erzielen muss. Zwei Prozent EBIT sind bei einem solchen Risikogewerbe viel zu wenig. 15, 20 oder 30 Prozent dieses Verschwendungspotenzials werden aber nicht direkt in die Gewinnkasse fließen, sondern das Bauen wird billiger werden. Das einzige Produkt, das in den vergangenen 50 Jahren nicht dramatisch billiger geworden ist, ist das Bauen.

Trägt auch serielles Bauen zur Kostensenkung bei?

Ja, wobei serielles Bauen heißt, in Losgröße 1 zu bauen. Wenn heute über serielles Bauen diskutiert wird, dann sagen neun von zehn Leuten, Bauen wird dann billig, wenn alle Häuser gleich aussehen. Das ist natürlich Unsinn. Industrie 4.0 heißt industrielle Produktion in Losgröße 1. Das ist genau das, was Bauen ist. Wir bauen in Losgröße 1.

Angenommen, die Bauindustrie hat die Digitalisierung erfolgreich bewältigt, die Kosten sinken, das Bauen wird preiswerter – sinken dann auch die Mieten?

Die Miete hat einzig und allein mit Angebot und Nachfrage zu tun. All diese Dummheiten wie der Mietendeckel zeigen genau den Unterschied zwischen Effektivität und Effizienz. Um die Miete zu senken, gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man verhindern, dass Häuser als Anlageobjekte gebaut werden und leer stehen. Dazu muss man leerstehende Gebäude hoch besteuern. Als zweites muss man zulassen, dass ein großes Angebot entsteht. Man muss Grundstücke zur Verfügung stellen, Grünland in Bauland umwidmen und den Wert dafür der öffentlichen Hand zukommen lassen und nicht dem Spekulanten. Natürlich werden Einsparpotenziale, die in der Produktion entstehen, an den Mieter weitergegeben, aber der wesentliche Punkt in Verbindung mit der Miete ist ein Überangebot am Markt. Dann sinken die Mieten. Alle Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, bewirken genau das Gegenteil.

Sie haben in Wien das Glück, über einen großen Bestand an genossenschaftlichem Wohnungsbau zu verfügen.

Ja, natürlich. Die Genossenschaften und die dafür zur Verfügung gestellten Grundstücke schaffen die Möglichkeit für ein Überangebot an Wohnungen. Selbst wenn wir keine Genossenschaften haben und das Bauen nur der Privatwirtschaft überlassen, rasseln die Mieten dann in den Keller, wenn es ein Überangebot gibt. Aber irgendwo schalten die Entscheidungsträger das Hirn aus. Die haben immer noch den spekulativen Hausherrn der Gründerzeit im Kopf, der den Menschen das Recht auf Wohnen¬ nur für hohe Mietpreise zugestand. In Wirklichkeit kann man das in einer Marktwirtschaft nur dadurch verhindern, indem ich ein Überangebot zulasse. Punkt.

© ATP Becker
Christoph M. Achammer
Autor

Univ.-Prof. Christoph M. Achammer studierte Architektur an der Technischen Universität Wien. Nach Lehr- und Wanderjahren in Europa, Mittel- und Fernost und in den USA wurde er Gründungsgesellschafter und CEO von ATP architekten ingenieure. Er ist Professor am Lehrstuhl für integrale Bauplanung und Industriebau, Institut für interdisziplinäres Bauprozessmanagement, der Technischen Universität Wien. atp.ag

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